An dieser Stelle zeigen sich einmal im Monat starke Persönlichkeiten, deren Einschränkungen der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind. Kinder, die während der Schwangerschaft schwerem Alkoholkonsum ausgesetzt sind, können untergewichtig, mit auffällig kleinem Kopf und einer speziellen Physiognomie zur Welt kommen. Wenn äußere Zeichen sichtbar und eine Suchterkrankung der Mutter bekannt sind, wird das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) leicht diagnostizierbar.
Manche Mütter konsumieren, weil sie sich der Schwangerschaft nicht bewusst sind oder die Gefahr des Alkohols vom Umfeld verharmlost wird. Auch wenn Babys nach regelmäßigem Alkoholkonsum der Schwangeren vermeintlich gesund zur Welt kommen, können sie während des Heranwachsens schwerwiegende Auffälligkeiten zeigen. Ihre Symptome werden oft mit anderen Syndromen wie ADHS oder psychischen Erkrankungen verwechselt, gerade wenn der Alkoholkonsum nicht bekannt oder tabuisiert ist. Häufig werden die Auffälligkeiten der Kinder als Resultat mangelhafter Erziehung eingeordnet. Der Weg zu passgenauen Hilfen ist oft lang, leidvoll und von vielen Rückschlägen geprägt.
Fotografin Ingrid Hagenhenrich hat einen unvergleichlich liebevollen Blick auf die Menschen vor ihrer Kamera. Sie nimmt sich Zeit, jede spezielle Persönlichkeit zu portraitieren. Iris Brandewiede gibt ihren Worten Raum. In der achten Folge der Serie treffen wir den 24-jährigen André aus Havixbeck.
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Seit dem 1.9. wohne ich in einer eigenen Wohnung, wo ich ganz für mich wohne, im ambulant unterstützten Wohnen. Die Betreuer kommen nur ein paar Stunden in der Woche zu mir, um Einkäufe mit mir zu erledigen, mich beim Wohnungsputz unterstützen und wenn es nötig ist, auch beim Papierkram. Vorher habe ich in einer Wohngruppe gelebt. Ich hatte schon seit längerem den Wunsch, eine eigene Wohnung zu haben. Mein Betreuer hat mich angesprochen, als eine Wohnung zur Verfügung stand. Und nach vielem Hin und Her wohne ich jetzt hier. Das ist ein großer Unterschied: Es ist deutlich ruhiger, ich habe deutlich mehr Freiraum. Ich bin ein Typ, der nach einem Arbeitstag auch ein bisschen Zeit für sich braucht. In der eigenen Bude kann ich mir die Ruhe natürlich viel mehr antun als in einer Wohngruppe, wo es Dienste und Mahlzeiten gibt oder die Betreuer oftmals noch was von einem wollen. Das habe ich hier nicht – und das genieße ich!
Es ist von hier aus auch näher zu meiner Arbeitsstelle. Ich arbeite seit zwei Jahren in der Gärtnerei in Stift Tilbeck. Da mache ich zum Großteil Gemüsebau. Ich züchte Gemüse, ich ernte Gemüse, das wir jeden Dienstag auf dem Markt in Havixbeck verkaufen, zum Beispiel Salat, Tomaten, Gurken, Zucchini, Paprika, Grünkohl. Lauchzwiebeln, Mangold und verschiedene Kräuter. Jetzt gibt es außerdem Kartoffeln, Kürbisse, Äpfel – alles, was wir vor Ort anbauen. Die Arbeit mache ich bei jedem Wetter – man weiß, dass die Arbeit da ist, und dass sie gemacht werden muss. Wir betreiben den Stand selbst: Jede Woche fährt ein Gruppenleiter mit zwei Beschäftigten raus. Wir bauen den Stand gemeinsam auf, sodass das Gemüse ordentlich ist. Wir Beschäftigten bedienen die Kunden. Die Chefs helfen uns im Notfall, wenn wir mal nicht weiterwissen. Aber generell sind wir es, die das Gemüse verkaufen. Es ist schon schön, wenn man seine Stammkundschaft hat, die gerne unser Gemüse kauft, weil es lecker schmeckt. Sie wissen: Bei uns nix gespritzt, es ist alles biologisch.
Jetzt, wo die Laubsaison begonnen hat, fällt auch viel Arbeit auf dem Gelände an. Wir pusten und sammeln die Blätter auf, damit alles sauber bleibt – und das mittlerweile jeden Tag. Ich habe eine Zeitlang in Polen auf einem Bauernhof gelebt. Dort habe ich auch schon viele Arbeiten gemacht, die draußen gemacht werden mussten, Rasenmähen etcetera. Weil mir das schon damals sehr gut gefallen hat, habe ich mich hier für den Gartenbereich entschieden.
Wegen meiner früheren Probleme bin ich mit elfeinhalb Jahren für insgesamt acht Jahre in einer Auslandsmaßnahme der Jugendhilfe gewesen. Das war eine sehr wertvolle Erfahrung. Ich hatte damals große Probleme mit meiner Emotionskontrolle. Da konnte es durchaus passieren, dass ich handgreiflich wurde und auch Gegenstände geschmissen oder kaputt gemacht habe. Die Probleme, die ich früher hatte, mit meinen Aggressionen, gehören der Vergangenheit an. Jetzt schaue ich mit meinem Mann voller Zuversicht in die Zukunft.
Das Foto beschreibe ich mit „Lernen“, weil ich mich sehr gern informiere. Ich habe schon zwei verschiedene Kulturen und zwei fremde Sprachen kennengelernt: Zuerst war ich vier Jahre lang in der Ukraine. 2014 hat die Krise in der Ukraine begonnen, von den Protesten auf dem Maidan bis zur Annexion der Krim und zum militärischen Konflikt im Osten des Landes. Da haben die deutschen Behörden beschlossen, uns zu evakuieren. Ich habe damals über die ukrainischen Nachrichten mitgekriegt, was abging. Seither interessiere ich mich sehr für Politik und Geschichte. Früher ging es eher über Bücher, heute schaue ich im Internet und lese viele Artikel.
In Polen habe ich in einer sehr ländlichen Gegend in einer Gastfamilie gewohnt, bei einer Mitarbeiterin der Maßnahme und ihren drei eigenen Kindern. Das war alles sehr familiär. Mir hat das sehr gutgetan. In meiner Freizeit bin ich dort viel spazieren gegangen. Die schulischen Sachen wurden aus Deutschland geschickt, die wurden auf Deutsch mit einem Lehrer abgearbeitet.
In beiden Ländern habe ich nach und nach alle Wörter gelernt, ich habe natürlich mit den Menschen gesprochen und immer nachgefragt, wenn ich etwas nicht wusste. Auch das kyrillische Alphabet habe ich gelernt. Polnisch und Russisch kann ich sprechen und schreiben. In Polen habe ich Kontakt zur deutschen Minderheit aufgenommen und habe Soldatenfriedhöfe aus dem ersten Weltkrieg besucht.
Die Diagnose FAS habe ich erst seit gut drei Jahren, aber mein Bruder hatte es schon vorher geahnt. Er ist siebzehneinhalb Jahre älter als ich und hat mitbekommen, dass meine Mutter während der Schwangerschaft sehr häufig getrunken hat, weil er damals noch bei ihr gelebt hat. Ich hatte schon als kleines Kind einen Schwerbehindertenausweis wegen meiner psychischen Beeinträchtigungen, aber auf FAS ist keiner gekommen. Zu meinem Bruder habe ich ein gutes Verhältnis. Seit ich wieder in Deutschland war, habe ich meine Mutter regelmäßig am Wochenende besucht. Leider ist sie vor etwa drei Jahren gestorben. Zwischen uns war das FAS nie Thema und ich habe ihr nie einen Vorwurf gemacht. Ich weiß, dass ich das FAS habe und kann mittlerweile sehr gut damit leben. Das Foto steht für sich. Wenn ich darauf schaue, denke ich: Das ist ein Typ, der schon vieles erlebt hat – und der sein Leben einfach lebt.
Alle Teile unserer FASD-Reihe gibt es hier: https://www.allesmuenster.de/tag/fasd/
Homepage von Ingrid Hagenhenrich: https://ingrid-hagenhenrich.com/ Hintergrund-Informationen über das FASD gibt es u.a. hier: Biographie einer jungen Frau mit dem FASD: https://agenda-verlag.de/produkt/selina-spetter-ich-lasse-mich-nicht-unterkriegen-solange-worte-meine-wut-besiegen/ „Chaos im Kopf“ – dein FASD Podcast https://www.chaosimkopf.info/ Institut FASD Münster https://www.institut-fasd.de/Startseite/ FASzinierendD – Homepage von Ralf Neier https://faszinierend.org/
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