An dieser Stelle zeigen sich einmal im Monat starke Persönlichkeiten, deren Einschränkungen der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind. Alkohol, den die werdende Mutter konsumiert, belastetet den Fötus länger als sie selbst, weil der unausgereifte Organismus das Zellgift nur sehr langsam abbauen kann. Schwangere hören regelmäßig die Weisheit, „ein Gläschen“ könne nicht schaden. Es ist medizinisch erwiesen, dass Alkohol eine Schädigung des Kindes nach sich ziehen kann. Welche genauen Zusammenhänge es zwischen der Menge und den gesundheitlichen Auswirkungen gibt, ist nicht gesichert.
Wenn Neugeborene untergewichtig, mit auffällig kleinem Kopf sowie einer speziellen Physiognomie zur Welt kommen und der Alkohlkonsum der Mutter bekannt sind, wird das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) leicht diagnostizierbar. Aber auch wenn Babys nach Alkoholeinfluss vermeintlich gesund zur Welt kommen, können sie während des Heranwachsens Auffälligkeiten zeigen. Diese Beeinträchtigungen werden unter der Fetalen Alkoholspektrumstörung oder FASD (Fetal Alkohol Spectrum Disorder) zusammengefasst.
Sie erschweren das Leben ebenfalls dauerhaft. Die Symptome werden oft mit denen eines ADHS oder psychischen Erkrankungen verwechselt. Häufig werden die Auffälligkeiten der Kinder als Resultat mangelhafter Erziehung eingeordnet. Der Weg zu passgenauen Hilfen ist oft lang, leidvoll und von vielen Rückschlägen geprägt.
Fotografin Ingrid Hagenhenrich hat einen unvergleichlich liebevollen Blick auf die Menschen vor ihrer Kamera. Sie nimmt sich Zeit, jede spezielle Persönlichkeit zu portraitieren. Iris Brandewiede gibt ihren Worten Raum. In der elften Folge der Serie treffen wir die 25-jährige Sarina aus Lüdinghausen.
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Hier bin ich in der Bauernschaft mit unserem Hund Buddy. Wir wohnen in Lüdinghausen in einer Bauernschaft, mein Freund und ich, im Haus seiner Eltern. Wir verstehen uns alle gut. High Five habe ich Buddy als Welpe beigebracht. Wir waren mit ihm in Senden in einer Hundeschule, da hatte ich Spaß dran. Ich finde das Bild richtig schön.
Ich habe auch eine Reitbeteiligung. Gleich hier um die Ecke ist eine Eselwiese, dann mit dem Fahrrad um die Ecke, dann bin ich schon da. Ich putze, mache das Pferd fertig, reite, miste den Stall, je nachdem. Ich bin dreimal die Woche da, und einmal davon ist Unterricht. Morgen hab ich wieder Reitstunde, da freue ich mich schon drauf! Hier laufen auch öfter Rehe herum – einfach so. Das ist so schön.
Vorher habe ich in Münster gelebt, mit meiner Freundin Vanessa in einer Wohngruppe und dann in einer selbständigen WG vom Vinzenzwerk. Da fand ich es immer cool. Mit einundzwanzig musste ich dort ausziehen, weil die Maßnahme vom Jugendamt nicht länger laufen konnte. Manchmal vermisse ich das auch.
Hier auf dem Land geht nix ohne Auto. Manchmal habe ich richtig doofe Arbeitszeiten, da ist das schön, ein Auto zu haben. Mit Fahrrad und Bus wäre das voll umständlich. Ich musste früher immer eine Stunde nach Warendorf fahren, jetzt nur noch fünfzehn Minuten nach Ascheberg.
Meinen Führerschein hatte ich mit neunzehn, den habe ich noch in Münster gemacht. Ich wollte unbedingt Führerschein machen. Ich war in einer Fahrschule, die hat einen Aufkleber, dass man auch mit Handicap Führerschein machen kann. Ich habe nachgefragt und die haben gesagt: „Ist gar kein Problem“. Ich habe einfach ein paar mehr Fahrstunden gehabt. Insgesamt habe ich ungefähr ein Jahr gebraucht und dann beide Prüfungen beim ersten Mal bestanden. Das fand ich richtig cool. Zuerst hatte ich noch kein Auto. Mein erstes Auto habe ich zusammen mit meinem Freund gekauft, einen Twingo – für fünfzig Euro. Ich musste noch ein bisschen reinstecken, und mein Freund hat den fertig gemacht. Praktisch, einen KFZ-Mechatroniker als Freund zu haben!
Das zweite Auto, einen alten Polo, hatte ich leider nur sechs Tage. Mein Freund hatte ihn extra über den TÜV gebracht. Leider hatte ich damit einen schlimmen Unfall. Im August 2019, nach meiner Ausbildung, bin ich in Münster übernommen worden und bin auf der Autobahn bei einem Überholmanöver von hinten in eine Betonwand gedrückt worden. Das Auto war danach völlig Schrott, die Motorhaube war komplett zerknickt. Und ich hatte nur blaue Flecken und einen Schock.
Ich habe nach einer Berufsvorbereitungsmaßnahme eine Ausbildung als Verkäuferin gemacht. Der Verein „Lernen Fördern“ war mein Ausbildungsbetrieb, ein Lebensmitteleinzelhandel in Coerde war der Kooperationsbetrieb. So hatte ich auf dem Berufskolleg weiterhin Unterstützung. Das war eine Klasse ungefähr fünfundzwanzig Personen, es war schon anstrengend, aber ich habe das gut geschafft. Eine aus meiner Klasse ist auch mit ihrem Freund nach Lüdinghausen gezogen, mit ihr habe ich noch Kontakt. Nach der zweijährigen Ausbildung habe ich noch ein Jahr drangehängt, jetzt bin ich Einzelhandelskauffrau. Mein erster Betrieb hat mich übernommen, aber ich wohnte schon in Lüdinghausen, da wollte ich etwas in der Nähe finden. In meinem Beruf werden zum Glück eigentlich immer Mitarbeiter gesucht. Ich bin ganz zufrieden in meinem Beruf. Manchmal gibt es schlechte Stimmung und schlechtes Arbeitsklima in einem Betrieb, das ist dann nicht so dolle. Aber bis jetzt war es immer möglich, eine neue Arbeitsstelle zu finden.
In der Zukunft möchte ich mit meinem Freund zusammenbleiben, vielleicht irgendwann mal heiraten und Kinder bekommen. Und ich wünsche mir, eine Lehrerin zu finden, die mir ohne Noten Klavierspielen beibringen kann. Mein Keyboard ist aufgebaut und ich versuche, mir mit Videos Musikstücke beizubringen. Das ist aber echt schwierig mit zwei Händen. Mein Gehirn kommt da manchmal nicht mehr mit. Ich bin musikalisch, habe als Kind Fagott gespielt, aber leider das Notenlesen wieder verlernt. Ich möchte zum Beispiel gerne „River flows in You“ und anderes von Ludovico Einaudi spielen. Den Anfang hab ich gelernt, aber weiter komme ich nicht.
Wann ich das mit meinem FAS erfahren habe…? Als Kind habe ich bei einer Pflegefamilie gelebt. Ich weiß noch, dass ich immer Tests an der Uniklinik gemacht habe, aber ob es mit dem FASD zu tun hatte, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Mit dreizehn Jahren kam ich in die Wohngruppe. Zuerst hatte ich Heimweh, aber dann fand ich es da schön. Ich habe mich nie wirklich mit meiner Behinderung auseinandergesetzt, aber ich habe einen Schwerbehindertenausweis. Voll viele sagen zu mir: „Du redest langsam“, und ich kann auch nicht schneller reden. Aber ob das mit dem FAS zu tun hat…?
Mit dem Lernen habe ich Schwierigkeiten und bei sozialen Kontakten bin ich zuerst eher auf Abstand. Ich hatte früher auch Medikamente, aber im Vinzenzwerk habe ich die alle abgesetzt. Durch die Betreuung in der Wohngruppe und später in der WG ging das bei mir ganz gut. Ich konnte immer jemand ansprechen, und ich bin immer selbständiger geworden.
Alle Teile unserer FASD-Reihe gibt es hier: https://www.allesmuenster.de/tag/fasd/
Homepage von Ingrid Hagenhenrich: https://ingrid-hagenhenrich.com/ Biographie einer jungen Frau mit FASD: „Ich lasse mich nicht unterkriegen, so lange Worte meine Wut besiegen“, Selina Spetter, agenda Verlag Münster https://agenda-verlag.de/produkt/selina-spetter-ich-lasse-mich-nicht-unterkriegen-solange-worte-meine-wut-besiegen/ Biographie von Tim: Tim – ein Leben mit dem fetalen Alkoholsyndrom, Monika Reidegeld, edition blaes – der kleine Verlag https://shop.editionblaes.de/produkt/tim-ein-leben-mit-dem-fetalen-alkoholsyndrom/ Fachzentrum für Kinder mit FASD: fasd-fz-koeln.de Hintergrund-Informationen über das FASD gibt es u.a. hier: „Chaos im Kopf“ – dein FASD Podcast https://www.chaosimkopf.info/ Institut FASD Münster https://www.institut-fasd.de/Startseite/ FASzinierendD – Homepage von Ralf Neier https://faszinierend.org/
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