Die letzte Podiumsdiskussion der bundesweiten Reihe „100 Jahre anderes Radio“ fand am vergangenen Donnerstag in Münster statt. Unter dem Motto „Von Frequenzbesitzern und Frequenzbesetzern“ wurde in der „black box“ des Begegnungszentrums Cuba die Rolle freier Sender erörtert. Radioenthusiasten beschrieben das Hase- und Igel-Versteckspiel mit Polizei und Peilwagen der Post und erinnerten an einen fast vergessenen Teil der Rundfunkgeschichte. Bürgerfunker und Wissenschaftler diskutierten abschließend die Zukunft nicht-kommerzieller Radios in einer immer unübersichtlicher werdenden Medienlandschaft, in der sich die politischen Gegensätze weit unversöhnlicher als früher gegenüberstehen.
„Wir hatten viel zu sagen, aber wir konnten nichts sagen“, beschrieb Ulrich Ketzscher das Dilemma, in dem nicht nur er Ende der 1970er Jahre steckte. Wie viele engagierte sich Ketzscher in der Anti-Atomkraft-Bewegung. Mit Plakaten, Büchertischen und anderen Formen machten sie auf ihr Anliegen aufmerksam, doch sie hatten das Bedürfnis, neue Kommunikationswege zu finden. Denn sie fühlten sich weder von den Tageszeitungen noch vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der damals ein Monopol hatte, ausreichend wahrgenommen.
Ein Aha-Effekt erreichte die Münsteraner, als sie von Radio Fessenheim hörten, dem Vorläufer des heute noch bestehenden Radio Dreyeckland. Mit jenem Sender wurde in Baden gegen den Bau eines französischen Atomkraftwerks direkt an der Grenze zu Deutschland protestiert. Dieser Impuls führte zur Gründung von Radio Fledermaus, mit dem die Bevölkerung der münsterschen Innenstadt für Kampagnen gegen Atomanlagen gewonnen werden sollte.
Die Zuhörerzahl war wohl mau, wie die „Fledermäuse“ selbst vermuteten. Das lag an der technischen Reichweite und der Einschränkung, höchstens eine kurze Sendung pro Woche ausstrahlen zu können. Dennoch wurden die Beiträge zu bestimmten Anlässen weit über ihren üblichen Hörerkreis hinaus wahrgenommen. So fand 1982 in den Hörsälen des Fürstenberghauses der Uni Münster ein Mittelamerikakongress mit 1.500 Teilnehmern statt, der sich kritisch mit der Lateinamerikapolitik der USA befasste.
Trotz ihrer Größe wurde die Veranstaltung kaum von den etablierten Zeitungen aufgegriffen. Aber Radio Fledermaus berichtete live aus dem Gebäude. Ketzscher ist davon überzeugt, dass die Westfälischen Nachrichten erst deswegen Artikel über die Versammlung veröffentlichten. Allerdings hatte sich der Nachrichtenanlass verändert: Ausgangspunkt der Berichterstattung in den traditionellen Lokalmedien war nun die illegale Aktion des Piratensenders, die Kongressbotschaften seien darüber hinaus nur huckepack mit transportiert worden. Den Ermittlungsbehörden musste bewusst sein, dass sich die Sendertechnik im Gebäude befand. Dennoch seien sie nicht eingeschritten, um noch größere Aufmerksamkeit zu vermeiden.
Radio Fledermaus teilte seine Mitstreiter auf in Techniker und den Freundeskreis, der die eigentliche Redaktion bildete. In Deutschland wurde lediglich der Betrieb eines Senders mit einer harten Gefängnisstrafe bedroht. Die begleitenden und vorbereitenden Arbeiten waren dagegen legal. So produzierte der Freundeskreis bewerbende Plakate und Flugblätter und nahm auch die eigentliche Sendung auf einer Compaktkassette auf. Die wurde dann konspirativ in einem „toten Briefkasten“ deponiert, dort von den Technikern übernommen und später gesendet.
Dieses System fiel irgendwann auf und ein Großaufgebot an Polizisten nahm alle zeitweilig fest – unabhängig davon, in welcher Form sie den Sender unterstützen. Diese Aktion, wie auch die Vernetzung der Münsteraner mit anderen politischen Piratensendern, sowie die Berichterstattung von Radio Dreyeckland begründeten den legendären Ruf von Radio Fledermaus in der Szene.
Der Medienhistoriker Jan Bönkost hatte die Veranstaltungsreihe „100 Jahre anderes Radio“, in deren Rahmen die Podiumsdiskussion im Begegnungszentrum Cuba stattfand, mit initiiert. Für ihn steht Radio Fledermaus beispielhaft für die Entwicklung der bundesrepublikanischen Freien Radios in den 1970er und 80er Jahren. Damals entstanden viele neue linke soziale Bewegungen. Die Macher versuchten dann, ihre Ziele über lokale Radio mit improvisierter Technik zu verbreiten. Dies war notwendig, da sie sich in der Selbstwahrnehmung auf die traditionellen Medien nicht verlassen konnten. Um ihre Sichtweisen in die Öffentlichkeit zu bringen, haben sie im Verborgenen Radiosender gegründet.
Im wesentlichen unterscheiden sich diese Sender von der Vielzahl an Medien heutzutage darin, dass die Piratensender nur als eine weitere Aktionsform innerhalb der Gesamtbewegung aufgefasst wurden. Mit dem konkreten Anlass verschwanden die Ausstrahlungen wieder. Kam eine neue Bewegung zustande, wie nach der Atomkatastrophe in Tschernobyl, dann wurden wieder Radiobeiträge produziert.
Heute kann jeder sein eigener Sender sein. In Münster bietet der Verein medienforum münster e.V. allen Bürgern der Stadt die Möglichkeit, täglich ein einstündiges abendliches Fenster im Programm von Antenne Münster zu füllen. Die Geschäftsführerin des medienforums, Gabi Fortak, bedauerte, dass die Sendungen vorher aufgezeichnet werden müssten, die Sendezeit knapp sei und weitere Beschränkungen zu einer Schere im Kopf der Macher führten. Dabei beinhalte die Themenpalette auch Beiträge zur Musik, Politik, Kultur (insbesondere Theater) und die Erprobung kreativer Ideen. Allerdings erreiche man über diese besondere Form des Bürgerfunks in Nordrhein-Westfalen auch Hörer, die zufällig über das kommerzielle Lokalradio in die Sendung hineingeraten und sonst keinen Impuls dafür hätten, zu einem Freien Radio umzuschalten.
Bernd Drücke, Koordinationsredakteur der in Münster erscheinenden Zeitschrift Graswurzelrevolution bedauerte, dass der Bürgerfunk nicht ausschließlich als Gegenöffentlichkeit im Sinne der Freien Radios agiere. Gerade eine Stadt wie Münster, in der alle Medien konservativ ausgerichtet seien, benötige eine klare und eindeutige Gegenposition.
Einen anderen Weg als die Bürgerfunker schlagen die Macher des Dortmunder Internetradios Nordpol ein. Seit 2019 bauen sie ein eigenes Angebot auf, welches den Ansatz der Freien Radios übernimmt. Deren Vertreter Ole erklärte, sie seien dadurch flexibel in der Gestaltung der Inhalte und unterlägen keinen zeitlichen Einschränkungen. Gute Redebeiträge während Versammlungen, Demonstrationen und Kundgebungen könnten live ausgestrahlt werden und blieben dauerhaft zugänglich, da sie später abrufbar seien. Allerdings werden auch hier die Macher bedroht. Zwar nicht von staatlichen Stellen, aber von rechtsextremen Gruppierungen. Daher möchte dieser Aktivist nicht mit seinem Nachnamen genannt werden.
Ulrich Ketzscher erklärte abschließend gegenüber ALLES MÜNSTER, dass sich politisch rechts stehende Alternativmedien massiv von Freien Radios unterschieden. Sie wollten nicht aufklären und eine soziale Gemeinschaft bilden. Sie nutzten die neuen Medien dazu, um an dumpfe Gefühle zu appellieren und mit ihren deutlich größeren finanziellen Möglichkeiten die Menschen damit ständig „zuzuballern“.
Eine ausführliche Zusammenfassung der Podiumsdiskussion könnt ihr am Freitag, den 29.12.23, ab 20:04 Uhr im Bürgerfunk auf den Frequenzen von Antenne Münster hören. Die Aufzeichnung wird danach im Januar mehrmals auf www.webradio-muenster.de wiederholt. Wissenswertes zur Veranstaltungsreihe „100 Jahre anderes Radio“ findet ihr unter https://anderesradio.de/.
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