An dieser Stelle zeigen sich einmal im Monat starke Persönlichkeiten, deren Einschränkungen der Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannt sind. Kinder, die während der Schwangerschaft schwerem Alkoholkonsum einer suchtkranken Mutter ausgesetzt sind, kämpfen nicht selten nach der Geburt um ihr Leben und tragen bleibende Schädigungen davon. Andere kommen augenscheinlich als gesunde Babys zur Welt, ihre schweren Einschränkungen zeigen sich erst während des Heranwachsens.
Ihre Symptome werden oft mit anderen Syndromen wie ADHS oder psychischen Erkrankungen verwechselt, gerade wenn der Alkoholkonsum unbekannt ist oder nicht thematisiert werden kann. Regelmäßig werden die Auffälligkeiten der Kinder als Resultat mangelhafter Erziehung eingeordnet. Der Weg zu staatlicher Unterstützung und passgenauen Hilfen ist oft lang, leidvoll und von vielen Rückschlägen geprägt.
Fotografin Ingrid Hagenhenrich hat einen unvergleichlich liebevollen Blick auf die Menschen vor ihrer Kamera. Sie nimmt sich Zeit, jede spezielle Persönlichkeit zu portraitieren. Iris Brandewiede gibt ihren Worten Raum. In der fünften Folge der Serie treffen wir die 28jährige Selina Spetter aus Hiltrup.
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Ich bin gerne im Wald. Wenn ich sehr unter Stress stehe, dann laufe ich. Ich kann stundenlang laufen. Dann werde ich müde, der Druck ist nicht mehr so stark. Ich sehe fast immer Tiere, ich mag sie unheimlich gern. In der Natur beobachte ich sie einfach. Einmal habe ich ein Reh gesehen. Meine Tante und mein Onkel hatten früher einen Hund, mit dem ich schon als Kind oft spazieren gegangen bin. Heute kommt ab und zu der Nachbarskater zu uns in den Garten. Er lässt sich nicht immer streicheln, aber wenn, dann freue ich mich.
Ich mache gerne Musik, hatte immer schon Spaß daran. Als Kind habe ich gern Musik gehört, als Jugendliche war ich in der Schülerband. Mit zwölf bin ich in eine Wohngruppe gekommen, gleichzeitig auch in eine neue Schule, das war eine sehr schwierige Zeit, und es ging mir überhaupt nicht gut. In der Wohngruppe haben alle Hip Hop und Deutschrap gehört. Anfangs konnte ich damit nicht so viel anfangen. Irgendwann habe ich es dann selbst gehört, das war 2008, mit 14. Bushido und Sido habe ich damals am meisten gehört. Ich habe dann gemerkt, dass ich selber ganz gut Rappen kann. Wenn ich wütend war, habe ich Raptexte geschrieben, dann am Laptop getippt, teilweise ausgedruckt und abgeheftet. Der Ordner steht heute noch bei mir im Schrank, da ist alles drin – von den ersten Texten bis jetzt. Da kann ich jederzeit reingucken, wenn ich Lust habe.
Ich kann meine Gefühle im Gespräch nicht gut benennen. Aber in diesen Texten bricht alles aus mir raus, völlig unzensiert. Erstmal habe ich das einfach so für mich gemacht. Später, als ich meine Biografie geschrieben habe, habe ich die Texte darin aufgenommen. Jetzt, mit 28, beschäftige mich weiter damit, weil es ein Teil meines Lebens ist, wenn auch ein schlimmer. Noch heute hilft mir das Schreiben, Krisen zu verarbeiten.
Ich texte nicht nur Songs, ich habe auch ein Buch geschrieben. Wenn ich unterwegs bin, habe ich immer einen Collegeblock und einen Stift dabei. Wenn ich zu Hause bin, schreibe ich direkt am Laptop. Autorin bin ich geworden, als es mit meiner Arbeit nicht so gut ging: Ich habe auf dem ersten Arbeitsmarkt gearbeitet, in einer Wäscherei, es war ziemlich stressig. Es hat mich immer mehr überfordert. Ich fühlte mich nicht verstanden. Gegenüber meinen Vorgesetzten habe ich keine Worte gefunden. Da habe ich angefangen, meine Geschichte aufzuschreiben, um über das FAS aufzuklären.
Meine Biografie heißt „Ich lasse mich nicht unterkriegen, so lange Worte meine Wut besiegen. Mein Leben mit dem FAS“. Ich möchte anderen damit helfen, und ich möchte, dass mehr in die Öffentlichkeit kommt, was FAS ist und was es für Beeinträchtigungen geben kann. Ich habe schon Lesungen bei Fachtagungen gehalten, um über das FASD aufzuklären, zum Beispiel an der Fachhochschule Münster, das war im Februar 2020. Inzwischen haben viele FASD-Betroffene und Fachleute mein Buch gelesen.
Meine leibliche Mutter war suchtkrank. Ich war bei der Geburt sehr untergewichtig und krank. Meine Pflegeeltern wussten also von der Schädigung. Richtig diagnostiziert wurde ich erst mit drei Jahren. – Ich habe das FAS, das sogenannte Vollbild des Fetalen Alkoholsyndroms. Erst als Jugendliche habe ich mich damit auseinandergesetzt. Zuerst wollte ich das verdrängen, ich habe immer gesagt: „Ich bin nicht behindert.“
Irgendwann habe ich es dann halbwegs angenommen. Ich habe eine Struktur für meine Tage gemacht und einen Wochenplan.
Die Coronazeit hat das alles durcheinandergebracht. Es war einfach zu viel Chaos, dieses ganze Hin und Her von Maßnahmen hat mich so gestresst, dass ich depressiv geworden bin. Ich habe ein Gedicht über diesen Zustand geschrieben. Wenn ich meine Worte wiederfinde, ist meistens das Schlimmste geschafft.
Depression
Seit über einem Jahr geht es nur bergab
Die Corona Pandemie, die mich innerlich zerstört hat.
Alles weggebrochen, so einfach über Nacht
Außen heile Welt, doch innerlich ein Wrack.
Außen stark bleiben, doch innen diese Traurigkeit
Etliche Nächte, sich in den Schlaf geweint.
Morgendliches Kotzen, was dich in den Wahnsinn treibt
Und du denkst immer noch, es vergeht schon mit der Zeit.
Doch die Wahrheit ist, dass dein Inneres stirbt.
Egal was du machst, kein Glücksgefühl.
Alles nur noch Last, alles nur noch kühl
Stößt die Menschen weg, die es gut mit dir meinen
Kurze Zeit später wirst du an Schuldgefühlen leiden.
Dein Selbsthass steigt und in dir diese Wut
Du verletzt dich selbst, die Arme voller Blut
Es ist ein Hilferuf, die Gedanken nehmen zu
Zweifel an dir selbst, Zweifel an der Welt
Du hast das Gefühl, dass keiner mehr zu dir hält.
In dir dieser Schmerz, wie ein Messerstich,
und du merkst, du ziehst dich immer mehr zurück.
Entfernst dich von Menschen, die dir helfen wollten
Das ist die Depression, Einsamkeit ist das was dann folgte
Nichts kommt mehr an dich ran, auch keine guten Worte
Familie, Freunde und Bekannte, die besorgt sind.
Der Sog zieht dich mehr nach unten, es ist ein Teufelskreis
Und du wünschst dir, dass deine tiefen Wunden irgendjemand heilt
Deine dunklen Gedanken, von niemanden nachvollziehbar.
Fühlst dich einfach wie ein großer Verlierer
Während andere lachen, kannst du dich nicht mehr freuen
Und du bist von dir selbst enttäuscht.
Du denkst, so geht es einfach nicht mehr weiter
die Traurigkeit in dir drin, dein ständiger Begleiter
Eine Krankheit, die dich in ihrem Griff hat
Diese Müdigkeit, und du denkst, woher habe ich noch diese Kraft
Tag für Tag zu gehen unter diesen Leuten
Du willst aus dem Loch und suchst dir Hilfe bei einem TherapeutenDepression – Du bist lebendig tot
Depression – Deine Seele ist in Not
Depression – Sie drückt dich auf den Boden
Depression – Alles scheint nur noch verloren
Ich weiß, der Text ist nicht leicht. Meine Biografie zu lesen, ist auch zum Teil heftig. Da stecken Gefühle drin, die ich im Gespräch nicht ausdrücken kann. Dieses Interview habe ich mehrfach verschoben, weil ich es mir nicht zugetraut habe. Ich konnte es jetzt führen, weil es mir endlich wieder ein bisschen besser geht.
Alle Teile unserer FASD-Reihe gibt es hier: https://www.allesmuenster.de/tag/fasd/
Selinas Biographie „Ich lasse mich nicht unterkriegen, so lange Worte meine Wut besiegen“ ist im Agenda Verlag, Münster, erschienen: https://agenda-verlag.de/produkt/selina-spetter-ich-lasse-mich-nicht-unterkriegen-solange-worte-meine-wut-besiegen/ Homepage von Ingrid Hagenhenrich: https://ingrid-hagenhenrich.com/ Hintergrund-Informationen über das FASD gibt es u.a. hier: „Chaos im Kopf“ – dein FASD Podcast: www.chaosimkopf.info/ Institut FASD Münster: www.institut-fasd.de FASzinierenD – Homepage von Ralf Neier: faszinierend.org
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