Kyrill, Ela, Emma – das Gewittertief „Quintia“ steckte sie im Juli letzten Jahres alle in die Tasche. In nur sieben Stunden ergossen sich 292 Liter Regen pro Quadratmeter über die Stadt. Sieben Stunden, die Münster verändert haben.
Es ist etwa 15.00 Uhr, als das Stadtgebiet aus dem Südosten her von einer Regenfront erreicht wird, die in nordwestlicher Richtung über Münster zieht. Begleitet werden die schwarzen Wolken von zum Teil heftigen Windböen, die im Bereich der Stadtmitte auf Höhe des Aasees die Heftigkeit einer Windhose bzw. eines Tornados annehmen.
Um 15.30 Uhr gehen bei der Leitstelle der Feuerwehr die ersten Notrufe ein. Volllaufende Keller, umgestürzte Bäume und eingeklemmte Personen werden gemeldet. An der Himmelreichallee durchschlägt ein Ast die Scheibe eines Autos, wodurch eine Frau schwer verletzt wird. Für einen älteren Mann in Kinderhaus kommt jede Hilfe zu spät. Er wird vermutlich aufgrund eines plötzlich geborstenen Kellerfensters von den hereinbrechenden Wassermassen erfasst. Am nächsten Tag finden Rettungskräfte in einem Bachlauf zwischen Nienberge und Kinderhaus einen Pkw, bei dem Fahrer kann nur noch der Tod festgestellt werden.
Die Uhr zeigt 16:29 Uhr, als die Feuerwehr den Ausnahmezustand für Münster ausruft, noch am Abend wird ein Krisenstab eingerichtet. Zu Spitzenzeiten sind rund 3500 Helfer aus dem gesamten Bundesgebiet im Einsatz, um die im Sekundentakt eingehenden Notrufe abzuarbeiten. Bis um 2:00 Uhr gehen 13.000 Anrufversuche ein, von denen ca. 1.700 entgegengenommen werden können. Schon in der Nacht spricht Feuerwehrchef Benno Fritzen vom „größten Einsatz in der Nachkriegsgeschichte“.
„Ich wollte hineinspringen und meine Sachen retten.“ (Daniela Steinbrede, Unwetteropfer)
Daniela Steinbrede wohnt in einer Kellerwohnung in der Dieckstraße und wird den Unwetter-Abend nicht vergessen. „Wir saßen bei meinem besten Freund und feierten den Geburtstag seiner Mutter. Bis meine Mutter anrief und sagte, dass ich nach Haus kommen müsse, da mein Fenster zerbrochen sei und jetzt mein Bett unter Wasser stünde.“
Die anschließende Fahrt durch Münster war schon ein Abenteuer an sich, erinnert sich die heute 23-jährige Auszubildende. „Zum Glück wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass wirklich so gut wie alles, was ich persönlich besaß, komplett unter Wasser stand. Als ich dann an der Kellertreppe das Wasser sah, das bis zur zweitobersten Stufe stand wollte ich hineinspringen und meine Sachen retten.“ Ganze zwei Wochen sind Familie und Freunde damit beschäftigt, den Keller trocken zu legen und auszuräumen, bevor eine Trocknungsfirma die Arbeit aufnimmt. Bis die junge Frau kurz vor Weihnachten wieder einziehen kann, lebt sie im Wohnwagen auf dem Grundstück.
Noch in der Unwetternacht organisieren sich freiwillige Helfer über die Facebookgruppe „Regen in Münster“. Hier können sich Betroffene melden, eine private „Leitstelle“ koordiniert die Einsätze der vielen Ehrenamtlichen. Pumpen, Sandsäcke, Manpower und Schlafgelegenheiten werden untereinander vermittelt. „Bis tief in die Nacht hinein haben wir in der Gruppe gearbeitet,“ erklärt Jan-Philipp Mühlenbein, der die Facebook-Community damals betreute. Der Zulauf ist enorm: über 6.000 Münsteraner sind über Wochen über das soziale Netzwerk in Kontakt und helfen sich gegenseitig.
„Dass das aber ein so großes Projekt wird, hätte ich niemals gedacht.“ (Tobias Janßen, Initiative „Spenden für Regen in Münster“)
Auch Tobias Janßen packte selber nachts mit an. Ihm war schnell klar: „Diese Leute haben nahezu alles verloren und brauchen schnell neue Sachen.“ Nur einen Tag später wird eine weitere Initiative ins Leben gerufen, Janßen gründet die Facebookgruppe: „Spenden für Regen in Münster“. „Die Gruppe sollte eine Plattform werden, um Sachspenden zu vermitteln“, erklärt der 28-jährige Krankenpfleger, „dass das aber ein so großes Projekt wird, hätte ich niemals gedacht.“
Ein Unternehmer stellt eine seiner riesigen Lagerhallen in Handorf zur Verfügung. Gemeinsam mit einem 20-köpfigen Team richtet Tobias Janßen diese als Spendenhalle her und ruft über die Medien zu Sachspenden auf. Bis Ende September können die Mitglieder der Initiative über 1800 Sachspenden an 250 betroffene Familien und Haushalte ausgegeben. Hilfe von Menschen für Menschen und das auf dem kurzen Dienstweg. Ein offenes Ohr und Gespräche gibt es gratis dazu.
Auch Thomas D. hat es schwer getroffen. Er bewohnte eine Kellerwohnung am Hans-Bredow-Weg. Als der Starkregen einsetzt, telefoniert er mit einer Freundin. Erst als der Vermieter klingelt, sieht der 27-Jährige das Wasser die Kellertreppe hinabfließen. Auf der anderen Hausseite steht das Wasser bereits einen Meter hoch über dem Fenster. Rund 90% seines Hab und Guts reißt das Wasser an sich. Der schlimmste Verlust für den gelernten Postboten? „All die Erinnerungen, die Kinderfotos und Geschenke von Freunden.“ Durch die Spendengruppe bei Facebook kommt auch der gelernte Postbote an Möbel, mit denen er sich in seiner neuen Wohnung einrichten kann.
Bei den Aufräumarbeiten, die sich über weite Teile des Stadtgebiets erstrecken, werden über 10.000 Tonnen Sperrmüll aus den Kellern geholt. Normalerweise fallen pro Jahr in Münster gut 6000 Tonnen Sperrgut an. Die Abfallwirtschaftsbetriebe fahren die unzähligen Müllberge in nur drei Wochen ab.
Die Stadt zahlt per Eilverfahren rund 5 Mio Euro Soforthilfen an 5.500 Betroffene aus, die nicht über ensprechende Versicherungen oder eigene ausreichende Mittel verfügen, um sich selbst mit dem für das Leben Nötigsten zu versorgen. Weitere 852.000 Euro, die auf den eingerichteten Spendenkonten eingehen, werden an 160 Haushalte ausgezahlt. Die beiden großen Versicherer in Münster verzeichnen nach „Quintia“ über 6500 Schadensmeldungen: alleine bei der Provinzial Versicherung werden 5000 Schäden geltend gemacht, wie Pressesprecher Fabian Hintzler mitteilt. Der Schadensaufwand für die Provinzial und LVM Versicherung beläuft sich für Münster auf zusammen 69 Mio. Euro.
„Die Katastrophe hat ungeahnte Reserven mobilisiert.“(Markus Lewe, Oberbürgermeister)
Die Folgen des Unwetters sind noch längst nicht bewältigt. Ein Jahr nach dem katastrophalen Starkregen läuft das Programm zur Schadensbeseitigung und zum vorbeugenden Hochwasserschutz unverändert auf Hochtouren. „Besonders das Abflussverhalten von Gewässern im besiedelten Bereich hat sehr hohe Bedeutung“, sagt Gerhard Rüller vom Tiefbauamt der Stadt Münster. „Alle Maßnahmen werden dabei im Einklang mit dem städtischen Klimaanpassungskonzept entwickelt.“ Darüber hinaus wurden Schwachpunkte bei den Straßenabläufen wie beispielsweise am Canisiusgraben behoben und Informationskampagnen konzipiert, um die Bevölkerung noch besser für die Gefahren solch sintflutartiger Regenfälle zu sensibilisieren.
„Die Katastrophe hat in der Bevölkerung ungeahnte Reserven mobilisiert“, fasst Oberbürgermeister Markus Lewe heute, ein Jahr nach „Quintia“, die Abläufe nach dem Unwetter zusammen. „Wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass die Stadt ein Gemeinwesen ist, für das die Bürgerschaft einsteht, hier ist er.“
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