Eigentlich schreibe ich auf und über Masematte, aber ich verfasse auch Gedichte. Ich bin die Marion Lohoff-Börger, die, die bei ALLES MÜNSTER die Kolumne „alles jovelino?!“ übernommen hat, und verkaufe meine Alltagslyrik als Postkarten in Läden und Cafés in Münster und auf Kreativ- und Designmärkten (z.B. Design-Gipfel). Ich bin die mit den alten Schreibmaschinen. Ach, ja genau! Ab und an poste ich zu besonderen Anlässen und Ereignissen auch ein Gedicht bei Instagram, Facebook und in meinen WhatsApp Gruppen. So auch am Anfang der Corona-Krise.
Das erste Gedicht „wir sind – wir bleiben“ traf den Nerv der Leute, ich bekam viel positive Rückmeldung. Von meinem Arbeitsplatz an der Skagerrakstraße im schönen Mauritz sah ich vor meiner Tür die vielen Spaziergänger und da kam mir die Idee, das Gedicht auszudrucken und es in einem Kästchen auf einen Hocker in den Vorgarten zu stellen. Gesagt, getan: nach dem ersten Wochenende waren 100 Karten weg! Zeitgleich übersetzte eine Freundin aus dem Iran, die mit mir gemeinsam an einer Fortbildung zur Kulturmittlerin im Haus der Familie teilnimmt, das Gedicht „vielleicht viel leichter“ ins Persische oder auch Farsi.
Da war die Idee geboren. Ich fragte andere Mitmenschen, die eine andere Muttersprache als Deutsch hatten, nach weiteren Übersetzungen und innerhalb von weiteren zwei Wochen liegen nun 12 Übersetzungen vor. Vom Rabbi, der es ins Hebräische übersetzt hat, über eine Englischlehrerin, einem Architekten, der aus Spanien kommt, bis hin zu eine jungen armenischen Frau, deren Eltern vor Kurzem abgeschoben wurden. Quer Beet (sic!) ist alles dabei.
Um die Vorgartengeschichte Corona tauglich zu machen (die Passanten suchten länger in der kleinen Holzkiste nach ihrer Sprache) entwickelte mein Mann Ralf einen Ständer für die Fülle von Sprachen und Karten, den wir jetzt liebevoll unseren „Lyrikomaten“ nennen. Das Projekt „Internationale Lyrik im Vorgarten“ war geboren.
Zuerst machte uns der Wind noch zu schaffen, aber dann stand der Ständer. Inzwischen bekomme ich fast jeden Abend Nachrichten über alle Kanäle, von Menschen, die begeistert sind von dem ungewöhnlichen Ständer in meinem Vorgarten und sich einfach nur an den Gedichten erfreuen.
Sehr interessant: Zuerst waren die polnischen Übersetzungen weg, dann die russischen. Am zweiten Wochenende plötzlich die englische Übersetzung (junge Leute auf dem Weg zum Kanal?) und am Karfreitag die französischen. Fragen über Fragen tun sich da auf.
Inzwischen fragten auch „Vielfachglück“, ein neuer Secondhandladen in der Sonnenstraße und „echtwert“ im Kreuzviertel an. An der Sonnenstraße stehen die Gedichte zeitweilig vor der Tür und Albert Bartel hat sie an der Kerßenbrockstraße in sein Schaufenster gehangen. Das Projekt zieht Kreise.
Wenn ich jetzt an meinem Schreibtisch sitze, dann höre und sehe ich, wie die Menschen sich an dem „Lyrikomaten“ mit seinen Gedichten erfreuen. Kinder fragen ihre Eltern, was das soll und warum „die“ das machen. Die Antworten sind interessant … Inzwischen habe ich eigens für Kinder zwei Postkarten von den „4 Schallermännern“ gezeichnet, zum Ausmalen und als Basicwissen für Masematte. Auch da sind abends immer alle weg. Langsam geht mein Papier zur Neige … Aber der Drucker hält fröhlich durch.
Gestern kam ein junges Paar (mit Migrationshintergrund) vorbei. Sie blieben erstaunt stehen und er rief: „Boah, ey geil, guck mal Farsi!“ Sie nahmen sich die Karte mit der Übersetzung meiner Freundin aus dem Iran aus dem Ständer, lasen sie durch und zogen glücklich von dannen.
Ja, deswegen macht die das.
Genau deswegen, weil es Menschen gibt, die sich derzeit nicht nur um sich selbst Sorgen machen müssen, sondern auch um Menschen in ihrer Heimat. Denn das Corona-Virus nimmt keine Rücksicht auf die derzeitige Lage der Flüchtlinge in aller Welt. Jeder in Münster soll sich in seiner derzeitigen Situation gesehen und verstanden fühlen. Lyrik verbindet. Lyrik ist Heimat und Zuflucht.
Und deswegen wird es, wenn ich es denn schaffe, im Sommer einen Lyrikband im agenda Verlag geben. Michael Schneeberger, der Verleger meiner anderen drei Bücher, hat zugesagt, dass er das „Internationale Lyrikprojekt im Vorgarten“ als Buch herausbringen will. Dann hielten wir das fest, was gerade gut ist: der Zusammenhalt und die Solidarität. Im Vorgarten bei mir und in Münster.
Bis Ende der Osterferien wird der „Lyrikomat“ noch in meinem Vorgarten an der Skagerrakstraße stehen. Kommt vorbei und schaut. (Und falls jemand ins Türkische übersetzen kann, oder eine asiatische oder afrikanische Sprache spricht und diese gut übersetzen kann… gerne melden unter marion@lohoff-boerger.de.)
Mehr von Marion Lohoff-Börger findet ihr auf ihrer Seite www.schreibmaschinenlyrik.de
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