Dass es Bücher gibt, die etwas zu sagen haben, kommt vor – allerdings meist im übertragenen Sinn. Die Bücher der „Human Library“, die Samstag in der Stadtbücherei ausgeliehen werden konnten, hatten wortwörtlich etwas zu sagen. Menschen aus Fleisch und Blut waren es, die zur Ausleihe standen und den Besucherinnen und Besuchern der Stadtbücherei zu einem bestimmten Thema viel zu erzählen hatten. Und dabei stand nicht unbedingt leichte Kost im „Regal“.
Ihren Ursprung hat die „Human Library“, also die „Menschliche Bibliothek“, in Kopenhagen. Inzwischen gibt es das Konzept weltweit, Münster ist nach Hamburg der zweite Ort in Deutschland. „Es geht darum, innere Schubladen und Vorurteile abzubauen“, erläutert Christian Buller von „Agenda Glück“, der die Aktion zusammen mit Arne Geraedts von der Stadtbücherei realisiert hat. Welche Bücher entliehen werden konnten, war auf einer Tafel im Eingangsbereich zu lesen. Dass die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner sich selber als Bücher bezeichnen, gehört zum Konzept der „Human Library“. Insgesamt elf Bücher standen je 30 Minuten zur Verfügung. Dabei waren eine ehemalige Komapatientin, eine bisexuelle Mormonin, ein wohnungsloser Mensch und andere Bücher mit zum Teil berührenden und mitreißenden Lebensgeschichten. Eine von ihnen war Khadra, die als Betroffene über das Thema Genitalverstümmelung berichtete.
„Die anderen Kinder haben mich gehänselt, weil ich mit neun Jahren noch nicht beschnitten war“, erinnerte sich die junge Frau an ihre Kindheit in Somalia. Schließlich griff sie selber zur Klinge und verletzte sich im Bereich der Schamlippen. Selber spricht sie oft von „Beschneidung“, weil der Begriff Verstümmelung viele Menschen zu sehr schockieren würde, wie sie sagte. Mit den vergleichsweise kleinen Eingriffen, die bei männlichen Beschneidungen vorgenommen werden, hatte das, was etwas später eine professionelle Beschneidering bei ihr vorgenommen hat, allerdings wenig zu tun. Die Schamlippen und die Klitoris wurden bei dem gefesselten Kind ohne Narkose entfernt, die klaffenden Wunden so weit vernäht, dass nur ein kleines Loch zurückblieb.
Die 28-Jährige berichtete sehr offen von dem, was ihr angetan wurde. Auch von der Flucht nach der Zwangsheirat und davon, wie wohl sie sich inzwischen in Münster fühlt. Nach langem Suchen fand sie außerdem einen Spezialisten in Aachen, der die verstümmelten Genitalien nicht nur optisch rekonstruieren, sondern auch die Sensibilität wiederherstellen konnte. „Zwei Jahre Wartezeit hat dieser Arzt. Es gibt so viele betroffene Frauen!“ Wünschen würde Khadra sich, dass die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die als erste mit geflüchteten Frauen Kontakt haben, mehr über das Thema Genitalverstümmelung wissen, um fundierter Hilfestellung leisten zu können.
Sich einem Fremden gegenüber so sehr zu öffnen, kann an die Substanz gehen, darum standen mehrere Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter zur Betreuung der Bücher und der Ausleiher bereit. Die Menschen, die ehrenamtlich von ihrem Leben und Schicksal berichteten, stammten aus dem Umfeld der Organisatoren. „Wir haben herumgefragt, ob jemand jemanden kennt, der Lust hat mitzumachen“, wie Buller erklärt. Die Veranstaltung sei ein großer Erfolg gewesen, „Es gab mehr als 50 Ausleihen, fast alle Bücher waren durchgehend ausgeliehen. Manchmal haben sich Bücher und Ausleiher am Ende umarmt, Nummern wurden ausgetauscht. Sehr wichtig war auch der Austausch der Bücher untereinander. Wir hoffen sehr, dass das wiederholt wird!“, freut sich Christian Buller über den Erfolg der Veranstaltung.
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