In einem Moor wird eine männliche Leiche gefunden. Dank Prof. Boernes Spürsinn ist die Identität des jungen Mannes schnell geklärt. Es handelt sich um Maik Koslowski: Gemüsebauer, Aktmodell und Verfechter von freier Liebe. Er war zudem Leiter von Gruppenseminaren wie „Sexualität und Tantra” oder „Trommeln und Ekstase”. Die Ermittlungen für den neuen Münster-Tatort „Rhythm & Love” laufen an. Im Interview sprechen die Macher und Schauspieler über die Entstehung des Films.
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Frau Schuch, Sie haben sich die Geschichte dieses Films ausgedacht und muten dem Münster-Team einiges zu. Haben sie eine sadistische Ader?
Elke Schuch, Drehbuchautorin: „Beim Schreiben unbedingt. Ich halte mich an die Empfehlung von Alfred Hitchcock: ‚Lass das Publikum immer so viel wie möglich leiden.‘“
Zum wohl ersten Mal gibt es bei den selbstbewussten Ermittlern Selbstzweifel. Auch deren Assistent*innen, Silke Haller und Mirko Schrader, hadern mit ihrer Profession. Muss man sich Sorgen um das Tatort-Münster-Ensemble machen?
Sophie Seitz, WDR-Redakteurin: „Ich denke, dass das Team gestärkt aus dieser Krise hervorgeht. Denn kennen wir das nicht alle? Dass manchmal alles so richtig schief läuft und man denkt, man wäre vielleicht die falsche Person am falschen Ort? Charles Bukowski hat das gut zusammengefasst: ‚Das Problem dieser Welt ist, dass die intelligenten Menschen voller Zweifel sind – und die Dummen voller Selbstbewusstsein.‘ Und da wir ein überaus intelligentes Team haben, geraten sie alle diesmal – unwissend und unverschuldet – in Identitätsprobleme. Und dabei – das ist ja das Schöne – war es nur eine Verkettung unglücklicher Umstände, die sie in diese Situation gebracht hat…“
Jan Kruse, Produzent: „Der Anspruch an einen komödiantischen Krimi, und diesen Spagat versucht der Münster-‚Tatort‘ immer wieder, ist sehr hoch und extrem reizvoll: Wie gelingt es den tragischen Umstand eines furchtbaren Mordes mit einer ordentlichen Prise unverkrampftem Humor zu vermischen? Bei näherer Betrachtung aber funktioniert Humor gerade dann extrem gut, wenn wir unseren Helden dabei zusehen dürfen, wie sie optimistisch, selbstbewusst und ohne Furcht auf ein Drahtseil steigen und erst auf halbem Weg erkennen, welch tiefer Abgrund unter ihnen sichtbar wird. Erst unmerklich, dann aber immer deutlicher kündigt sich die nahende Katastrophe an. An diesem Punkt, an dem unser sonst so perfektes Münster-Ensemble gezwungen wird, sich mit der eigenen Unvollkommenheit auseinanderzusetzen, dürfen wir diesmal ganz nah bei ihnen sein. Je näher sie uns an ihrer eigenen Tragödie teilhaben lassen, desto stärker entwickelt sich ihre Geschichte. Der große Mut unserer Helden zur seelischen Nacktheit macht unseren ‚Tatort – Rhythm and Love‘ für mich so wunderbar warmherzig und sympathisch.“
Furchtlos wie immer nimmt der Kommissar zwei höchst verdächtige Personen ins Visier. Doch sein Bauchgefühl wird diesmal schwer erschüttert. Was wäre für Thiel schlimmer: dass der FC St. Pauli absteigt oder dass er sich Boernes Ergebnissen geschlagen geben muss?
Axel Prahl, Schauspieler (Hauptkommissar Frank Thiel): „St. Pauli hat, Gott sei‘s getrommelt und gepfiffen, zuletzt vier Siege und zwei Unentschieden eingefahren und ist somit weit entfernt von einem der letzten Tabellenplätze, der für Absteiger reserviert ist [Anm. d. Red.: Stand März 2021]. Somit ist in letzter Zeit deutlich mehr Verlass auf die Resultate von St. Pauli, als auf die Labor-Ergebnisse von Herrn Professor. Vielleicht sollte er seine sonst übliche Arbeitsprämisse (‚Alles muss man selber machen lassen‘) auch mal überdenken!“
Ausnahmsweise sieht der Professor die Schuld für eine Krise mal nicht bei anderen, sondern tatsächlich bei sich selbst. So instabil haben wir ihn noch nie erlebt. Wieviel gekränkte Eitelkeit kann Boerne ertragen?
Jan Josef Liefers, Schauspieler (Gerichtsmediziner Karl-Friedrich Boerne): „Er ist Wissenschaftler mit gewissen hedonistischen Zügen. Als Wissenschaftler immer höchst korrekt und präzise, könnte der Hedonist in ihm vielleicht die eine oder andere Quellenangabe oder Fußnote vergessen haben? Natürlich niemals!! Das nagt an ihm, und es ist mehr als nur Eitelkeit, die hier betroffen ist.“
Selbst die sonst so resolute Assistentin ist hier auf die seelische Unterstützung eines Kollegen angewiesen. Ist es Mirkos ruhige Art, die sie sich öffnen lässt, oder doch der viele Rum im Tee?
ChrisTine Urspruch, Schauspielerin (Rechtsmedizinerin und Boernes Assistentin Silke Haller): „Ich glaube, jeder kennt die Situation, wenn man den Moment verpasst, einen Fehler richtig stellen zu wollen. Grund dafür ist oft falsche Scham oder ein vermaledeites Verantwortungsgefühl. Und so quält sich auch Alberich mit der Frage ‚Wie komme ich aus der Nummer wieder raus?‘. Da ist es für sie so unsagbar wertvoll in Mirko Schrader einen Verbündeten zu finden, einen Freund zum Reden. Weil er sich in einer ähnlichen Lage befindet, finden sie Vertrauen zueinander und können sich gegenseitig stützen. Da hilft nebenbei auch der berühmte Schuß Rum im Tee… oder war es umgekehrt?“
Von Assistent zu Assistentin lässt es sich manchmal leichter das Herz ausschütten. Bahnt sich hier eine wunderbare Freundschaft an?
Björn Meyer, Schauspieler (Kommissar und Thiels Assistent Mirko Schrader): „Es bringt viel mehr Freude, wenn man sich zu zweit über seine Vorgesetzten echauffieren kann. Das schweißt zusammen. Außerdem verbindet die Beiden eine große Leidenschaft: Kakao mit Rum. Es gibt schlechtere Voraussetzungen für eine wunderbare Freundschaft.“
Was verbirgt sich hinter dem Titel „Rhythm and Love“?
Brigitte Maria Bertele, Regisseurin: „Ich persönlich denke dabei an Ekstase oder an einen Zustand des Außer-sich-seins und es kommt mir in gegenwärtigen Zeiten vor wie eine verrückte Utopie. In einem Leben ohne Corona wären einige Menschen am Wochenende der Fernsehpremiere des ‚Tatort – Rhythm and Love‘ in den ersten Mai getanzt, hätten Walpurgisnacht gefeiert oder sich anderen Aktivitäten gewidmet, die auf Zweckfreiheit, Verausgabung und Verschwendung hin ausgerichtet sind.
Diese kleinen Fluchten aus der rationalen Verfasstheit der modernen Gesellschaft mit ihrer Ausrichtung auf Nützlichkeit, Effizienz und Produktivität sind uns gegenwärtig versperrt, es bleibt allenfalls noch der Schaffensrausch oder ein wodurch auch immer induzierter Rausch in den eigenen vier Wänden. Der zum Mensch-sein dazugehörende homo festivus und der homo ludens sind uns irgendwie abhandengekommen. Die als beglückend empfundene Befreiung und Entlastung des Menschen von sich selbst, die Erfahrung der vorübergehenden Überwindung des Ich in einem ekstatischen Zustand sind uns in der Gegenwart schwer zugänglich.
‚Alles Generöse, Orgiastische, Maßlose ist verschwunden‘, resümiert Georges Bataille schon vor ein halben Jahrhundert. Denkt man heute an diesen Satz, möchte man ihm flapsig zurufen: ‚Das war Jammern auf hohem Niveau!‘ Man fragt sich, ob es ein einfaches Zurück zu dem Vorher geben können wird, an das wir uns mit einiger Sentimentalität erinnern.
Ich bin gespannt, ob das Verbot von Genuss und Ausschweifung Spuren hinterlassen wird in einer Gesellschaft, die unausgewuchtet geprägt ist von Leistung, Rationalität, Vernunft und Selbstkontrolle und verdinge einstweilen meine Zeit mit Eskapismus in Bücher-, Hör- und Filmwelten und dem unbedingten Hoffen auf mehr Rhythm & Love außerhalb der eigenen vier Wände.“
Das Umfeld, auf das die Ermittler stoßen ist diesmal eine polyamor eingestellte Bauwagenkommune. Machen Sie sich mit dem „Tatort“ etwa über diese alternative Lebensweise lustig?
Jan Kruse: „Die Bauwagenkommune ist im Prinzip nur eine Metapher für ‚Das Andere‘, eine Projektionsfläche, an der man sich abarbeiten kann, eine neue interessante Weggabelung auf einer Straße, die immer nur langweilig geradeaus zu führen scheint. Was wäre wenn, ist eine unserer existenziellsten menschlichen Fragestellungen. Aber das Leben basiert auf Entscheidungen, die man fällen und mit den Konsequenzen leben muss. Keine Entscheidungen ist keine Alternative. Wer nur auf das Glück wartet, wird es nie finden. Und somit ist der ‚Erlenhof‘ ein Ort, der auch unsere Protagonisten zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben herausfordert.“
Sophie Seitz: „Nicht im Mindesten! Die Kommune ist für die ein oder andere Figur im Film sogar ein Sehnsuchtsort und bildet einen schönen Gegenpol zu unserem Ensemble, das aus lauter Solisten besteht. Und wie so oft ist das Gras auf der anderen Seite nicht wirklich so viel grüner als man zunächst meint…“
Was macht für Sie den Reiz der Konstellation aus?
Elke Schuch: „Ich finde es spannend, wenn Menschen in ihre eigenen Abgründe blicken müssen. Was passiert, wenn jemand merkt, dass er nicht dem Bild entspricht, das er von sich selber hat? Oder, noch schlimmer, wenn er das eben nicht bemerkt? Diese Kluft zwischen Schein und Sein hat mich an der Geschichte interessiert.“
Das Leben auf einem idyllischen Hof, mit aufgeschlossenen Menschen – würde sich Kommissar Thiel da wohlfühlen? Vielleicht sogar Bauwagentür an Bauwagentür mit Prof. Boerne?
Axel Prahl: „Da der kleine Frank, dank seiner Eltern, dieses Lotterleben in verschiedensten Kommunen, zur Genüge genossen hat, strebt er dann doch eher das konventionelle, vermeintlich Sicherheit gebende, bürgerliche Dasein an. Vaddern hat damals ein Zitat von mir an eine Werbefirma verkauft: ‚Papa, dann möchte ich später auch mal Spießer werden!‘“
Rhythmus und Liebe – das haben wir bisher nicht unbedingt mit Prof. Boerne in Verbindung gebracht. Entdeckt er hier neue Leidenschaften für sich?
Jan Josef Liefers: „Na also lassen Sie ihn das nicht hören! Als glühendem Wagnerianer sind Rhythmus und Liebe zwei alte Bekannte für ihn. Wenn er denen allerdings in einer sexuell freizügigen Wohnwagensiedlung begegnet, verheißen von einer attraktiven Französin… voilà – dann gerät er schon mal außer Kontrolle. Sogar dermaßen, dass sein Schütteltanz aus Rücksicht auf zarte Gemüter aus dem Film herausgeschnitten werden musste!“
Wäre es für Prof. Boerne denkbar, in polyamoren Beziehungen zu leben?
Jan Josef Liefers: „Wahrscheinlich hätte er Polyamor für eine Schallplattenfirma gehalten. Andererseits ist er natürlich bibelfest und kennt den Urheber der Monogamie namentlich! Ein gewisser Herr Paulus postulierte sie in einem endlos langen Brief, den er an die bis dato in Liebesdingen offenbar umtriebigen Korinther schickte. Bis heute kämpfen wir – wie weiland die armen Korinther – darum, die Lücke zwischen Anspruch und Realität zu schließen.“
„Rhythm and Love“ ist Ihr erster Tatort mit dem Münsteraner Ermittlerteam. Hand aufs Herz: Was ist das Besondere an diesem Ensemble?
Brigitte Maria Bertele: „Es gibt Vieles, was an diesem Ensemble besonders ist, und ich kann bei Anspruch auf Vollständigkeit einer Beschreibung nur kolossal scheitern! Vielleicht am meisten beeindruckt hat mich, dass die Spieler den Ball immerzu in der Luft halten, dass sie hochprofessionell dafür sorgen, jeden Morgen hochmotiviert und mit Spiellust und Improvisationsfreude das Spielfeld zu betreten. Sie schaffen es, sich selbst permanent in Spiellaune zu halten, auch an langen Drehtagen, bis zur letzten Klappe am letzten Drehtag.
Sie sind beweglich und schnell in Kopf und Herz, überraschen sich selbst, ihre Spielpartner und das Team, sind handwerklich virtuos, künstlerisch phantasievoll und inhaltlich erfrischend subversiv. Ich finde die Zusammensetzung der Charaktere großartig, die Konstellationen äußerst fruchtbar und habe alle sehr ins Herz geschlossen. Und, ich habe bei den Dreharbeiten und im Schneideraum wirklich Tränen gelacht.“
Münster-Tatort „Rhythm & Love” | 2. Mai 2021 | 20:15 Uhr | im ERSTEN
(Quelle: WDR)
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