In Münster gibt es viele Schilder, auf den meisten steht wohl „Fahrräder abstellen verboten“. Berühmt dürften indes nur zwei der Blechtafeln sein, auf dem einen wird eine Sonderregelung für Frau Westermann verkündet, auf dem anderen stehen ein Datum und eine Uhrzeit. Während Frau Westermanns Ruhm für die Ewigkeit verschraubt wurde, macht das andere deutlich klar, wann Schluss ist mit der öffentlichen Zurschaustellung deutscher Pünktlichkeit, im aktuellen Fall wäre dies am 2. April 2020 um 16 Uhr der Fall gewesen.
Mark Formaneks „DATUM“ aus dem Jahr 1992 ist ebenso rätselhaft wie unspektakulär, gleichzeitig für jeden sichtbar und doch unerreichbar. Alle vier Jahre wird das einfache Blechschild, das am Michaelisplatz in drei Metern Höhe an einer Wand befestigt ist, gegen ein neues ausgetauscht. Darauf zu lesen ist dann das nächste Datum des Schilderwechsels. Seit im Jahr 2000 die Stadt Münster das Werk mit zehn Schildern erworben hat, ist sie für den pünktlichen Austausch verantwortlich. Doch diesmal gibt es eine Galgenfrist für das Blechschild, Corona macht’s möglich! Das aktuelle Versammlungsverbot verträgt sich nicht mit dem Menschenauflauf, den das schlichte Event in der Vergangenheit ausgelöst hat, Hunderte Menschen versammelten sich regelmäßig, um der Aktion beizuwohnen, die nicht mal vom Künstler selber sondern von einem Mitarbeiter des Kulturamtes durchgeführt wird. In den letzten Jahren wurde diese Aufgabe sehr gewissenhaft von Sebastian Bertuleit in Begleitung einer Leiter, eines Schraubendrehers und des neuen Schildes übernommen.
Die Verschiebung des Wechseldatums führt dazu, dass erstmals auf dem Schild für eine gewisse Zeit nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit abgebildet wird, wie auf einer Gedenktafel. Erstmals? Nein, nicht ganz, bereits am 24. März 2008 kam es für ein paar Tage zu diesem, vom Künstler vermutlich nicht geplanten Phänomen, als der Termin vom Kulturamt schlicht vergessen wurde. Trotz der Absage durch das Kulturamt haben sich rund ein Dutzend Menschen vor dem geheimnisvollen Schild versammelt, deutlich vor ihnen war aber schon das Ordnungsamt vor Ort und musste tatsächlich ein oder zwei Mal kurz einschreiten, wenn der Mindestabstand unterschritten wurde. Der stellvertretende Leiter des Ordnungsamtes, Norbert Vechtel, schaute persönlich nach dem rechten. Manche der Anwesenden kannten das Schild aber nicht dessen Geschichte, einige andere „Schilderfans“ wollten wohl nicht glauben, dass der Termin einfach so verstreicht. Silvester wird ja schließlich auch nicht wegen eines Virus abgesagt oder verschoben.
Das erste Schild hing 1992 noch am Hawerkamp, doch bereits das folgende aus dem Jahr 1996 wurde am heutigen Ort installiert. Seither folgt im Vierjahresrhythmus Schild auf Schild, lediglich das genaue Datum und die Uhrzeit variieren. Mal war es der 24. März um 17.00 Uhr, dann der 28. März um 16.45 Uhr und ein anderes Mal der 3. April um 17.15 Uhr. Immer wird der Blick des Betrachters auf diesen speziellen, zufällig gewählten Zeitpunkt gelenkt, wird ihm die Einzigartigkeit des Moments bewusst. Auch diesmal, wenn ein winziger Organismus dafür sorgt, dass der Termin entfällt. Alle Schilder, sowohl die zurückliegenden als auch die zukünftigen, werden im Kulturamt aufbewahrt. Die Daten der Zukunftsschilder sind geheim. Wie schön wäre es, wenn sie von Kulturamtsleiter zu Kulturamtsleiter in einem geheimnisvollen Koffer weitergereicht werden würden, wie das Wissen um die Area 51 in den USA von Präsident zu Präsident. Augenzwinkernd verrät Merle Radtke vom Kulturamt: „Die Schilder werden im Untergrund des Kulturamtes von einem dreiköpfigen feuerspeienden Drachen bewacht!“
Mark Formanek, der von 1988 bis 1995 an der Kunstakademie Münster studiert hat, ist offiziell beim Schilderwechsel nicht anwesend, manch einer will ihn aber schon früher in der Masse der Zuschauer entdeckt haben. Traurig sei er nicht, dass der Schilderwechsel diesmal nicht termingerecht stattfindet, berichtet Radtke. Schade sei es natürlich für diejenigen, die sich zum Beispiel deswegen auf den Termin gefreut haben, weil es ihr Geburtstag ist und sie diesen vor Ort gerne anlässlich des Kunstevents gefeiert hätten. Andererseits würde ja auch niemand auf den Wechsel des Schildes bestehen, wenn zum Beispiel das Haus in Flammen stehen würde, zitiert Merle Radtke den Künstler, der seit einigen Jahren in Berlin lebt.
Wann der Schilderwechsel nachgeholt wird, bleibt in Abstimmung mit dem Künstler geheim, man könne ja nicht an irgendeinem zukünftigen Termin den Wechsel vom 2. April mitverfolgen. Irgendwann hängt es dann dort, der Wechsel wird nur von zufälligen Passanten bemerkt werden. Das letzte Schild wird im Jahr 2036 installiert, was wird dann auf ihm zu lesen sein? Wird der dann 69-jährige Künstler auf ihm verlangen, dass es als letztes seiner Art zu einem bestimmten Zeitpunkt vernichtet wird und damit die Aktion beendet ist? Oder darf es, so wie das für Frau Westermann, auf ewig am Michaelisplatz hängen bleiben und dem Treiben auf dem Domplatz zuschauen?
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