Die angesehene Tageszeitung Washington Post spricht im Zusammenhang mit Seyran Ateş von einer „feministischen Revolution des muslimischen Glaubens“ und die unter anderem von ihr in diesem Sommer eröffnete liberale Ibn Rushd-Goethe Moschee in Berlin brachte den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan dazu, von der Bundesregierung die sofortige Schließung der Einrichtung zu fordern. Frauen und Männer, Sunniten, Schiiten und Aleviten beten dort gemeinsam, offenbar eine unerträgliche Vorstellung für das türkische Staatsoberhaupt und Anlass für inzwischen über 100 Morddrohungen.
Am Donnerstagabend nahm Ateş an der mit dem Ethnologen Prof. Thomas Hauschild und dem Journalisten Christoph Reuter hochkarätig besetzten Podiumsdiskussion im Rahmen der Reihe „Dialoge zum Frieden“ in Münsters Rathausfestsaal teil. Unter der Moderation der WDR-Journalistin Gisela Steinhauer und vor etwa 200 Zuhörern wurde versucht, der Frage nachzugehen, wie es zur Radikalisierung religiöser Bewegungen kommt.
Hauschild berichtete von seinen Erfahrungen in Süditalien, wo durch wirtschaftliche und soziale Einflüsse die ursprünglich starken familiären Strukturen zunehmend zerfallen und den Jüngeren die Orientierung abhanden kommt. „Dort finden sich heute Situationen wie vor 30 Jahren in späteren Bürgerkriegsregionen, das muss intensiv beobachtet werden“, mahnt der Wissenschaftler. Viel mehr zu beobachten und entsprechend zu reagieren, das ist der dringende Rat des Ethnologen. Die Nachbarn der Attentäter vom 11. September 2001 hätten seinerzeit in Hamburg zwar bemerkt, dass Veränderungen im Verhalten der jungen Männer nebenan vor sich gingen, sie suchten aber nicht das Gespräch mit ihnen. Ein Fehler, wie sich später herausstellen sollte.
Dass der Verlust von Orientierung und das Gefühl von Minderwertigkeit eine zentrale Ursache für die Radikalisierung junger Menschen ist, bestätigt auch Ateş. „Wenn ein solcher Jugendlicher zum ersten Mal ein Maschinengewehr in der Hand hält, dann ist er plötzlich wer. Das macht sexy und zieht auch Frauen an. Der Aspekt der Sexualität wird in diesem Zusammenhang vollkommen unterschätzt, der Islam braucht dringend eine sexuelle Revolution!“, da ist sich die Juristin und Menschenrechtsaktivistin sicher. Eine wichtige Rolle spiele außerdem das oft nur bruchstückhafte und auswendig gelernte Halbwissen vom Koran.
Reuter, der wegen des Sturms etwas verspätet aus Hamburg zum Podiumsgespräch hinzukam, sieht hier ebenfalls ein mächtiges Instrument der Radikalisierung: „Wenn Sie die passenden Zitate heraussuchen und neu aneinanderreihen, können Sie alles Mögliche rechtfertigen.“ Der Nahostkorrespondent des Spiegels berichtet über das Vorgehen des IS bei der Ausbildung junger Männer für den Kampf: „Die sagen denen, dass sie nicht selber Schuld sind an ihrem gescheiterten Leben, sondern die Ungläubigen. Das ist die Strategie, alle anderen sind böse nur wir nicht! Dazu kommen dann Geschenke und das Versprechen von Wohlstand, das beeindruckt die jungen Leute!“ Bei den Menschen, die aus den Gebieten des IS zu uns geflüchtet sind, sieht Reuter zunächst kaum eine Gefahr der Radikalisierung: „Wenn die sich hätten radikalisieren wollen, dann hätten sie das Fahrrad oder den Bus zum nächsten IS-Stützpunkt nehmen können. Diese Menschen kommen, weil sie zu Hause nicht überlebt hätten oder sich irgendwelchen Milizen hätten anschließen müssen!“
Um einer zunehmenden Radikalisierung in Deutschland entgegen zu wirken, empfehlen alle Podiumsteilnehmer eine größere Aufmerksamkeit für Veränderungen im eigenen Umfeld. „Wir haben jetzt eine Situation, in der in manchen Kitas überlegt wird, ob mit Rücksicht auf die muslimischen Kinder überhaupt noch Weihnachten gefeiert werden soll. Kleine muslimische Mädchen tragen Kopftücher in der Grundschule, andere werden im Unterricht ohnmächtig, weil sie im Ramadan fasten. Wir knicken zunehmend vor den Radikalen ein, das darf nicht sein. Wir müssen unsere Demokratie schützen!“ Seyran Ateş erlebt die Gefahr durch Extremisten täglich am eigenen Leib, wegen der zahlreichen Morddrohungen hat das Landeskriminalamt einen Personenschutz rund um die Uhr angeordnet, auch in den Rathausfestsaal kamen die Zuhörer nur nach einer Personenkontrolle durch die Beamten.
Zum Abschluss plädierte Christoph Reuter für den Dialog als Werkzeug gegen die Radikalisierung: „Es gibt bei uns das Grundproblem der Arroganz der Gleichgültigkeit, des sich nicht darum kümmern wollen, was mit den Menschen passiert. Erst heißt es, das gehört zur Kultur des anderen, das muss man akzeptieren und wenn es dann gefährlich wird heißt es, das muss man jetzt aber genau beobachten. Wir müssen aber mit den Menschen ins Gespräch kommen und wir müssen daran glauben, dass Reden etwas verändern kann!“
Die Reihe ist eine Initiative der AG „1648 – Dialoge zum Frieden“ des Wissenschaftsbüros der Stadt Münster und wird am 11.10. um 20 Uhr mit der Podiumsdiskussion „Siegeszeichen. Mahnmal. Kunstwerk. Touristische Attraktion“ über die Käfige am Lambertikirchturm und die Täufer von Münster fortgesetzt.
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