An dieser Stelle zeigen sich einmal im Monat starke Persönlichkeiten, deren Einschränkungen der Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannt sind. Häufig wird das Fetale Alkoholsyndrom (kurz FAS, angloamerikanisch auch Fetal Alcohol Spectrum Disorder / FASD) erst im Erwachsenenalter diagnostiziert.
Insbesondere Mädchen und junge Frauen schaffen es häufig, ihre Impulse und Emotionen so weit unter Kontrolle zu halten, dass ihr Verhalten eher mit Syndromen wie ADHS oder psychischen Erkrankungen in Verbindung gebracht wird. Der Weg zu staatlicher Unterstützung und passgenauen Hilfen ist oft lang, leidvoll und von vielen Rückschlägen geprägt.
Fotografin Ingrid Hagenhenrich hat einen unvergleichlich liebevollen Blick auf die Menschen vor ihrer Kamera. Sie nimmt sich Zeit, jede spezielle Persönlichkeit zu portraitieren. Iris Brandewiede nähert sich ihnen mit Worten. In Folge 4 der Serie treffen wir die 24-jährige Anna-Lena Ravenzwaaij aus Havixbeck.
Das ist meine Hündin Barany, die wir 2019 aufgenommen haben. Leider lebt sie schon nicht mehr. Es ist eine traurige Geschichte, aber auch eine schöne. Meine Eltern und ich schauen immer „Tiere suchen ein Zuhause“. So bin ich auf die Idee gekommen, dass ich ein Tier aus einem großen Tierheim aufnehmen möchte. Eine Freundin meiner Mutter leitet eine Tier-Auffangstelle in Ungarn. Meine Mutter und ich haben im Internet recherchiert und sind am Ende beide auf diese Hündin gekommen, das war voll lustig. Sie war voll klein, Dackel mit Terrier. Sie war schon in einer Pflegestelle in Mainz. Dort haben wir sie besucht. Sie war voll fröhlich und wir waren beste Freunde. Da haben wir direkt entschlossen, dass sie beim nächsten Mal mitkommt. Sie war schon 18 Jahre alt, als sie zu uns gekommen ist. Auf dem linken Foto sieht man: Sie konnte noch auf ihren Hinterbeinen stehen. Wir sind viel spazieren gegangen und haben gespielt „Wer als erstes an der Haustür ist“. Später, als sie nicht mehr laufen konnte, bin ich mehrmals am Tag in einem Wagen mit ihr rausgegangen. Sie hat mir sogar geholfen: Ich hatte mit 21 einen Schlaganfall. Durch die Spaziergänge mit Barany im Wagen konnte ich schneller wieder laufen.
Barany ist knapp 19 Jahre alt geworden. Am 5.3.21 ist sie gestorben. Das weiß ich, weil ich es bei Instagram gepostet habe. Zehn Tage später wäre sie 19 geworden.
Von dem Schlaganfall habe ich mich körperlich erholt, auch weil ich viel Sport gemacht habe. Meine Sprache ist auch wieder da. Manche Erinnerungen sind aber noch weg.
Hier sieht man mich beim Mountainbiken. Ich wohne erst seit März in Havixbeck, vorher war ich in Marl bei meinen Eltern. Da war ich am Wochenende von Freitag bis Sonntag jeden Tag fahren. In Havixbeck kenne ich mich auch schon ganz gut aus, und für unbekannte Strecken habe ich das Handy.
Auf das Mountainbiken bin ich in den Bergen gekommen. Wir fahren mit meiner Familie immer in die Schweiz. Ich war da gefühlt schon 15mal im Sommer, dreimal im Winter, einmal Silvester. Ich habe da auch schon Freunde. Unsere Vermieter haben einen Sohn, der wollte immer mit mir spielen. Jetzt ist er schon zwölf und wir spielen zusammen online Fußball.
Ich fahre mit dem Fahrrad zur Arbeit, täglich 5,9 Kilometer hin und zurück, in die Werkstatt von Stift Tilbeck. Dort arbeite ich mit einem neuen Roboter, der heißt Nachi. Der Roboter stellt Fahrradträger her. Ich muss mehrere Sachen vorbereiten und am Ende die Produkte kontrollieren. Die bringe ich in die Gruppe und die Kollegen und Kolleginnen packen es in Kartons. Wenn ich arbeite, vergeht die Zeit so schnell, dass ich beinahe den Feierabend verpassen könnte.
Mein Traum ist es, auf einem Bauernhof zu arbeiten. Ein Bekannter meiner Mutter hat einen Hof mit Kühen. Immer wenn wir da zu Besuch waren, habe ich beim Melken geholfen. Ich bin auch schon Trecker gefahren. Die Arbeit mit Kühen auf dem Hof – das wäre es für mich. Nur bloß keine Hühner – mit allem, was fliegt, habe ich es nicht so.
Ich spiele Fußball in einer Frauenmannschaft bei Schwarzweiß Havixbeck. Wir trainieren zwei- bis dreimal in der Woche und spielen in der Kreisliga A. Ab September sind am Wochenende wieder Spiele. Borussia Dortmund ist mein Verein. Für ein ganzes Jahr hatte ich ein Sky Abo – das war mir aber zu teuer. 2019 war ich in Gelsenkirchen im Schalke-Stadion, da habe ich das Spiel Deutschland – Holland gesehen. Holland hat 2:1 gewonnen. In den letzten zwei Jahren war wegen Corona leider nichts mit Stadionbesuchen.
Ich spiele auch auf der PS4 Konsole Fußball online. Fortnite und Ballerspiele spiele ich auch gerne, tödliche Spiele – zum Beispiel Rainbow Six. Ich spiele immer mit Denselben, wir reden während des Spielens, das nennt sich Party. Da sind Männer dabei, Kinder, sogar ein Junge mit seiner Mutter. Eine Zockermama hat nicht jeder.
Ich weiß was ich möchte, ich habe viele Interessen, probiere vieles aus, ich halte mich an alle Regeln. Ich trete für mich ein und sage, wenn ich etwas nicht gut finde. Das Handy ist meine Gedächtnisstütze, meine Insta-Posts helfen mir zum Beispiel dabei, mich zu erinnern.
Dass ich FASD habe, wissen wir erst, seit ich zwölf oder 13 war. In der Schule konnte ich mir manches erst gut merken und habe es dann wieder vergessen. Meine Mutter fand das komisch. Als ich die Diagnose bekommen habe, war es schwer für mich. Dann habe ich es angenommen. Ich bin anders, ist halt so.
Alle Teile unserer FASD-Reihe gibt es hier: https://www.allesmuenster.de/tag/fasd/
Homepage von Ingrid Hagenhenrich: https://ingrid-hagenhenrich.com/ Hintergrund-Informationen über das FASD gibt es u.a. hier: Biographie einer jungen Frau mit dem FASD: agenda-verlag.de „Chaos im Kopf“ – dein FASD Podcast: www.chaosimkopf.info/ Institut FASD Münster: www.institut-fasd.de FASzinierendD – Homepage von Ralf Neier: faszinierend.org Fachhochschule Münster – Weiterbildung zur FASD-Fachkraft: www.fh-muenster.de
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