Kurz nach dem Start am neuen Arbeitsplatz fragt mein Chef am Rande einer Konferenz, ob ich als Musikerin ein wöchentliches Ganztags-Angebot für Jugendliche entwickeln könne, die keine Sprache haben und körperlich schwer eingeschränkt sind. Mein Hirn startet einen angestrengten Abgleich zwischen Motivation und Familiensituation. Während es rattert, schiebt sich eine ebenfalls neue Kollegin an meine Seite.
Sie trägt Blautöne zum rosigen, von silbernen Löckchen umrahmten Gesicht. Sie könne sich gut vorstellen, mit mir gemeinsam ein solches Projekt an den Start zu bringen, meint sie. Diese Zielgruppe liege ihr besonders am Herzen. Mein Hirn schaltet zwei Gänge runter. Ich erwidere Giselas Lächeln und schlage ein. Jetzt grinst auch der Chef. Gisela nimmt mir die Sorge, nicht zu einhundert Prozent verlässlich zu sein. Sie habe Mutter und Hund zu versorgen, beruhigt sie mich, die seien viel planbarer als Kleinkinder.
Gisela hat von einem handwerklichen Grundberuf auf Lehrerin umgesattelt. Sie ist die bildende Künstlerin unserer Projektgruppe. Wöchentlich kleksen und kleben wir Skulpturen aus Alltagsgegenständen und Figuren aus Papierabfällen. Mit Humor und großem Erfindungsgeist entlockt Gisela denjenigen gestalterischen Ausdruck, die sich mit Worten nicht ausdrücken können. Ich liefere den Soundtrack, fahnde nach Musikgeschmäckern und ermittle Lieblingssongs.
Wir produzieren feine und wilde Klänge, dichten Folksongs in Masematte um und tanzen auf Rädern. Mitarbeitende im Freiwilligen Sozialen Jahr erweitern unser Repertoire um coole Flashmobs ihrer Schulabschluss-Umzüge. Wann immer die Stadt etwas zu bieten hat, unternehmen wir Tagesausflüge mit unserer besonderen Crew. Die abenteuerlichen Reisen verarbeiten wir künstlerisch. Mit Darstellern, die darstellerisch auf den ersten Blick kaum etwas zu bieten haben, produzieren wir Theater-Aufführungen und Filmprojekte. Im Rampenlicht glänzen die Hauptpersonen mit ihren Besonderheiten, mit ihrer ganz speziellen Ausstrahlung und der Freude, im Mittelpunkt zu stehen. Von Regie ist nie die Rede. Gisela ist unser Kompass. Ich ziehe die musikalischen Strippen.
Privat schlägt sich unsere enge Kooperation darin nieder, dass ich niemals kalte Füße bekomme. Meine Begeisterung für die regelmäßig geschenkten farbenfrohen Stricksocken führt mich in Giselas gute Stube, wo ich zum Ticken der alten Pendeluhr in ein Familiengeheimnis eingeweiht werde: Die Hacke von Tante Toni. „Für alle Fälle“, sagt Gisela.
Der Diagnose-Schock erwischt alle kalt. Dass diese vitale Frau, die bis in den Herbst hinein sockenfrei durchs Leben geht und leidenschaftlich gern mit ihrem alten Hund durchs münsteraner Hinterland radelt, ernsthaft krank werden könnte, hat niemand erwartet. Am wenigsten sie selbst. Eine Woche nach der großen Operation kommt sie mir sockenfrei und dynamisch im Krankenhausflur entgegen. Die fiese Nachbehandlung nimmt sie klaglos in Angriff. Die silbernen Löckchen fallen aus. Ich stricke eine meerblaue Mütze, so weich, dass ich sie kaum aus den Händen geben mag. Gisela sieht super damit aus.
Eine kleine Gruppe enger Vertrauter findet sich alle paar Wochen zum Kaffeeklatsch zusammen. Wir testen die Cafés der Stadt, von klassisch bis fancy, erzählen Dönekes aus Lebens- und Schulalltag. Die Löckchen wachsen. Gisela will unbedingt ihren Alltag zurück. Sie schafft es.
Der Rückfall trifft alle hart. Die Kaffeerunden finden in größerem Abstand nach Giselas Rhythmus statt. Wir telefonieren. Wir pflegen eine Brieffreundschaft mit echten Briefen. Ich berichte vom Familienalltag. Gisela erzählt von den Frechheiten des Eichhorns und den Kapriolen der Meisen im Vogelhaus. Sie ist genervt vom mickrigen Wuchs ihrer Sonnenblumen und weiß sicher: Die werden im nächsten Jahr wieder gigantisch.
Die Pandemie schlägt voll zu. Wir sind in Distanz gut geübt, aber die Treffen in der Kaffeerunde fehlen. Gisela räumt auf, fördert alte Schätze zu Tage, gibt Geliehenes zurück. Eine Woche vorm runden Geburtstag entscheidet sie sich für die Palliativstation. Den Geburtstagsgruß bringe ich durch die lange Schleuse zur Pforte. Die Ordensschwester versichert, ihn der Patientin zu bringen. Gisela zieht ins Hospiz. Dort lebt sie nur noch zwei Tage.
Nach Tagen der Leere sortiere ich die Socken all unserer Jahre. Fünf Paare sind komplett, zwei Einzelsocken melden den Verlust ihrer Partner. „Die sind schon längst im Sockenhimmel“, tröstet Gisela, das vertraute Grinsen in der Stimme, „bisschen Schwund is immer.“ – „Na, du musst es ja wissen“, frozzle ich zurück. Tränen tropfen in die Wolle.
Mein Lieblingspaar, das regenbogenfarbene, das erste Geburtstagsgeschenk, hat ein Loch in der Hacke. Im Handarbeitskorb finde ich die geheime Anleitung, in Giselas rundlicher Handschrift: „Die Hacke von Tante Toni“.
Ich wühle nach der Sockenwolle und beginne zu stricken.
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