Wer eine Badewanne sein Eigen nennen darf, hat sicher eine gewisse Vorstellung davon, wie lang ein einzelner Füllvorgang dauern mag und wie viel Wasser da durch den Kran spült. Um es noch ein wenig anschaulicher zu machen: Von jeder gefüllten Wanne könnte sich der Durchschnittsbürger laut Gesundheitsexperten mindestens 50 Tage lang sprichwörtlich „über Wasser halten“, dem eigenen Flüssigkeitsbedarf entsprechend.
Noch mitgekommen bis hierhin? Prima. Dann lassen wir nun die Wasserbombe platzen: Quasi 266 Millionen gefüllte Badewannen ergossen sich vor genau fünf Jahren über Münster – innerhalb von nur sieben Stunden. Das sind 40 Millionen Kubikmeter. Oder 40 Milliarden Liter. Oder 24.000 Haushalte ohne Strom. Oder 13.000 Notrufe. Oder zwei Tote.
Es ist Montag, der 28. Juli 2014. Und die Westfalenmetropole versinkt im Regen.
Hochwasser auf dem Prinzipalmarkt
„Jahrhundert-Unwetter“, hatte die Münstersche Zeitung damals getitelt. „Ausnahmezustand“, „Horror-Unwetter überflutet Münsterland“, „Tote nach Starkregen“ – so schrieben andere Medien. Es war ein Ereignis, das sich ins kollektive Gedächtnis der Stadt flutete. Viele Menschen verloren im Wasser ihr Hab und Gut, manche sogar gleich ihre Bleibe. Die wenigsten aber kurioserweise ihre Kraft und ihr Vertrauen in die große Gemeinschaft. Und all das trotz jener Rahmenbedingungen, die in hiesigen Breitengraden und Generationen so völlig unbekannt waren. Vielleicht aber auch gerade deswegen?
„Meine Frau und ich hatten uns für Ferien zuhause entschieden“, sagt Wolfgang Heuer, Leiter des münsterschen Krisenstabs über den ersten Tag seines Sommerurlaubs. Und wie es dann halt so häufig ist: Wenn man mal Zeit und Pläne fürs Fensterputzen oder Gartenarbeit hat, regnet’s. Das ist auch und gerade für Münster ja so ungewöhnlich nicht. Was dann aber kam, entsprang wohl schon eher der Kategorie „besonders“: Hochwasser. Mitten auf dem Prinzipalmarkt. Unter anderem. Es war ein Jahrhundertereignis. Und der Grund für diesen Rückblick.
Einfach nur unterwarnt?
Nein, der Wettergott meint es dieser Tage nicht ganz so gut. Auf die Nacht genau sechs Wochen zuvor – vom 9. auf den 10. Juni 2014, wütete bereits eines der „schlimmsten Unwetter in NRW seit vielen Jahren“, wie Experten damals sagten, durch Münster. Keller liefen voll, Bäume entwurzelten. Es war sicher kein Vergleich zu den noch folgenden Geschehnissen und hatte lediglich Spuren im Stadtbild, nicht aber in den Köpfen hinterlassen.
Doch hätte Münster nach den ersten Unwetterschäden in diesem Jahr Vorkehrungen treffen können? Hätten Bürger und Güter besser geschützt werden können, ja müssen? Wo prasselnder Regen doch eigentlich zum guten Ton der Stadt gehört? Schlechtwetterbote Jörg Kachelmann tut schon kurz nach der verheerenden Flut durch die Westfalenmetropole seine Meinung via Twitter kund: 15 bis 30 Minuten betrage die typische Vorwarnzeit bei solch einem Ereignis. Aber „das war unterwarnt“, so lässt er wissen. Allemal müßig, über etwaige Szenarien zu diskutieren. Denn das, was geschieht, ist hinlänglich bekannt. Tatsächlich gibt es kein Entrinnen, selbst umfassende Warnungen ein halbes Stündchen früher hätten wohl kaum diese Wassermassen stoppen können. Denn wider alle Gerüchte besitzt Münster keine hochklappbaren Bürgersteige, und auch schnell herbei gekarrte Sandsäcke vor den Türen hätten das Chaos allenthalben ein paar Minuten länger aus den Häusern der Stadt wehren können.
Hüben geht die Stadt unter, drüben tröpfelt es marginal
Hätte. Könnte. Wenn und falls. „Statistisch gesehen“, so das Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz in Nordrhein-Westfalen, sei dieses Ereignis „weit jenseits einer Wiederkehrwahrscheinlichkeit von 100 Jahren“. Beruhigend? Nun ja.
Niederschlagssummen zwischen 40 und 70 Litern pro Quadratmeter hatte die Unwetterzentrale am Vorabend des 28. Juli angekündigt. Starkregen, Schauer, Gewitter und schwülwarme Luft. Was zumindest gefühlt das geringste Problem sein dürfte. „Wie üblich bei solchen Wetterlagen wird es nicht jeden treffen und es wird naturgemäß Gebiete geben, in denen das volle Gefahrenpotenzial dieser Wetterlage nicht ausgeschöpft wird“, hieß es außerdem. Und damit lagen die Experten auch ziemlich richtig. Denn – Fun-Fact am Rande –: Während Münster im Jahrhundertregen untergeht, heißt es zeitgleich 15 Kilometer weiter aus der Flugwetterwarte des FMO: „Nichts. Wir haben hier nur marginalen Niederschlag.“
Die erste Drohung am Buldernweg
„Fahrbahn am Buldernweg überschwemmt!“ So lautet die erste telefonische Meldung zur „Ausnahmelage Wasser“, die an diesem Montag bei der Polizei eingeht. Um genau 16.26 Uhr. Die Feuerwehr erfährt schon eine Minute zuvor von einem weiter östlich vollgelaufenen Keller. „Und es war zu diesem Zeitpunkt in keinster Weise absehbar, was passiert, auf welche Katastrophe wir in dem Moment zusteuern“, wird Heinz Hedrich (Dienstgruppenleiter der Polizei) noch mit 100 Tagen Abstand sagen. An diesem Montagnachmittag ist er just zum Spätdienst angetreten, samt seinem Kollegen eigentlich auf dem Weg zu einem Brandalarm an der Robert-Bosch-Straße. Dort wird er aber nicht ankommen. Weil die Umgehungsstraße gegen halb fünf bereits eineinhalb Meter unter Wasser steht. Einige Fahrzeuge schwimmen schwerelos darin, das Heck schon in die Höh‘ gereckt. In Dreierreihen ballt sich der Stau davor, aus den Senken gibt es kein Entkommen. Und aus allen Richtungen flutet es geradewegs auf Hedrich und Co zu.
Während in der Innenstadt junge Menschen die Gefahren noch nicht abzusehen vermögen, sich stattdessen einen Spaß aus der Abkühlung machen – das Foto eines jungen Mannes, der mit weit ausgebreiteten Armen auf einer Luftmatratze durch die Rosenstraße „surft“, geht um die Welt – setzt die Unwetterzentrale die Warnstufe von Gelb auf Rot hoch. Was zwei, drei Stunden zuvor mit Nieselregen begann, hat schon jetzt be- und verängstigende Ausmaße angenommen. Enorme Winde peitschen den Regen durch die Stadt, der Himmel ist verdunkelt. Im Keller des Clemenshospitals stehen erste Praxisräume unter Wasser, am Grünen Grund und anderenorts haben sich längst große Seen gebildet. Auf der Promenade entwurzeln ganze Bäume. Schon jetzt, zu diesem frühen Zeitpunkt, vermeldet die Unwetterzentrale Regenmengen von 60,9 Litern je Quadratmeter. Mengen, die sonst eher im gesamten Monat gemessen werden.
„Gefahrenabwehr hat gnadenlosen Vorrang“
Hedrich und sein Kollege leiten den Verkehr um, so gut es eben geht. Gegen die Fahrtrichtung, zurück zum Albersloher Weg. „Da geht es nur noch ums Improvisieren, die Gefahrenabwehr hat da gnadenlosen Vorrang“, so sagt er. Zwei Kollegen im Zivilfahrzeug stoßen hinzu. In hochgekrempelten Hosen und ohne Schuhe werden Lagen und Tiefen sondiert, die mehr als 100 Lkw wie kleineren Autors sortiert, Insassen und Versicherer vor vermutlich Schlimmerem bewahrt.
„Krankes Pferd im Anhänger“, „Meine Frau bekommt ein Kind“, „Unser Keller läuft voll“ – Hedrich bekommt viele Geschichten zu hören, vermag deren Wahrheitsgehalt jetzt akut aber nicht zu überprüfen. Deshalb nimmt er sie erst einmal alle gleichermaßen ernst.
Erst wellenartig, dann flutend, erhalten die Einsatzkräfte via Funk eine gewisse Vorstellung von dem, was rundum geschieht. Die Kanalstraße überflutet, umgestürzte Bäume hier, einklemmte Personen dort. Unfälle. Tausendfache Alarme. Kollegen stecken mit ihren Krädern fest und auch die mittlerweile informierten und angeforderten Katastrophenschutzhelfer aus anderen Regionen haben größte Probleme, in die Stadt hinein zu kommen. Und plötzlich brechen dann zu allem Unglück auch noch die Verbindungen zur Leitstelle zusammen.
Stadt unter Vollalarm
Die Feuerwehr hat längst Vollalarm ausgelöst. Jede verfügbare münstersche Kraft kommt zum Einsatz. Hunderte Feuerwehrleute sämtlicher 23 Löschzüge sind fortan auf der Straße, vier Einsatzfahrzeuge werden die nächsten Stunden nicht überstehen und mit Motorschaden aus der Rettungskette ausfallen. Lokale Hilfsorganisationen haben derweil aber schon den Rettungsdienst übernommen. Und andere Städte entsenden vorsorglich ihre Helfer.
Das Nervenkostüm ist allseits kaum mehr hauchdünn. Doch schlimmer noch: Auf der Annette-Allee stürzen nach einem tornadoähnlichen Sturm Bäume, einer von ihnen trifft das Auto einer Frau. Sie wird lebensgefährlich verletzt. Hunderte Haushalte sind ohne Strom, Zug- und Busverkehr massiv gestört. Dann bricht plötzlich der Himmel auf. Sonne kommt durch und legt den Blick auf das bisherige Chaos frei. Die Bürger Münsters aber atmen durch.
Um kurz vor 18 Uhr klingelt Benno Fritzen, hier Leiter der Feuerwehr, auf dem Handy von Wolfgang Heuer durch. Und der Urlauber hat „sofort kein wirklich gutes Gefühl beim Annehmen des Anrufes“, wie er sagt. Schließlich würde Fritzen nicht einfach so… er schildert den Unfall in der Annette-Allee, kündigt außerdem für die kommenden Stunden weitere „sehr starke Regenfälle über dem Stadtgebiet“ an. Um 18.03 Uhr warnt der Deutsche Wetterdienst auch offiziell vor der nächsten Gewitterfront.
Das erste Todesopfer
Fast das gesamte Stadtgebiet meldet „Land unter“. Einige Menschen haben längst ihre Wohnungen im Tiefgeschoss aufgegeben. Sturzbäche knallen durch die zerstörten Fenster, begraben Betten, Schränke, jegliches Hab und Gut unter einem riesigen Wasserteppich. Das Landesinnenministerium wird von der Leitstelle der Feuerwehr um Hilfe gebeten. „Die eigenen Kräfte haben die Grenzen ihrer Möglichkeiten erreicht“, teilt Fritzen mit.
Es läuft viel mehr Wasser in die Häuser, als es zeitgleich wieder herausgeschöpft werden könnte. Die lokalen Helden müssen kleine Kellerüberschwemmungen hintanstellen, fokussieren sich auf die schwersten. Die Zufahrten nach Münster sind allesamt gesperrt. Trotzdem werden externe Einsatzkräfte durchbeordert und umgeleitet. Jede Hand ist nötig, um der Lage irgendwie Herr zu werden. Über 1600 externe Einsatzkräfte von Feuerwehren werden es schließlich sein, die tagelang wertvolle und erfolgreiche Hilfe leisten. 3500 Helfer aus ganz Nordrhein-Westfalen. Das sind beeindruckende Zahlen. Allein: Sie können nicht jedes Unglück verhindern. In einem Gebäude in Kinderhaus suchen Taucher der Feuerwehr nach einem Vermissten. Um 21.40 Uhr gibt es traurige Gewissheit: der 76-Jährige kam im Keller in den plötzlich hereingebrochenen Wassermassen ums Leben.
292,4 Liter Regen pro Quadratmeter
Um kurz nach 23 Uhr legt sich erneut eine unheimliche Stille über die Stadt. Sollte es das denn nun endlich gewesen sein? Blitze, Donner, Regen – vorbei? Um es kurz zu machen: nein. Der Deutsche Wetterdienst gibt die nächste Warnung vor dem nächsten starken Gewitter aus. Kein Ende mit Schrecken. Es bleibt ein Schrecken ohne Ende. Und Münster hat Angst.
Eine Frau meldet ihren Mann am Abend bei der Polizei als vermisst. Was zu diesem Zeitpunkt niemand weiß: Nahe der Hagelbachstiege hat die Strömung sein Fahrzeug mit sich gerissen, es voller Wucht gegen die Autobahnbrücke prallen lassen. Wassermassen bahnen sich ihren Weg in den Innenraum des Autos. Der Vermisste sitzt noch darin. Er wird diese dramatischen Momente nicht überleben, seine Familie aber erst Stunden später Gewissheit haben.
Während Polizisten und Feuerwehrkräfte – die hauptamtlichen wie die freiwilligen, die meisten in zivil – nach wie vor Hand in Hand gegen das Chaos in der Stadt kämpfen und sich durch Straßen, Häuser und Keller kämpfen, arbeiten die Partnerinnen und Partner derweil daheim allein gegen das steigende Wasser an. Es ist eine abstruse Situation, in der alle für die Gemeinschaft arbeiten. Auch wenn das nicht immer so offensichtlich sein mag. Allein bis 21 Uhr hatte die Polizei 244 offizielle Einsätze absolviert. Die „Dunkelziffer“ – und dieser oft schwerlich genutzte Begriff ist in diesem Fall wohl wörtlich zu nehmen – aber liegt um ein Vielfaches höher. Von Haus zu Haus. Minute um Minute. Hilferuf um Hilferuf.
24000 Haushalte sind ohne Strom. Rund 13.000 Notrufe zählt das immer wieder gestörte Telefonnetz. Bis zu unfassbaren 292,4 Liter Regen pro Quadratmeter haben in den vergangenen sieben Stunden die Stadt Münster lahm gelegt. So weist es die Messstation an der Hauptkläranlage aus. Es ist der zweithöchste jemals in Deutschland gemessene Wert. „Spitzenreiter“ Zinnwald im Erzgebirge verzeichnete im August des Jahres 2002 sogar 312 Liter pro Quadratmeter – dies allerdings über einen Zeitraum von 24 Stunden. Und noch ein fragwürdiger Rekord für Münster: Der Hauptteil dieser 292,4 Liter fiel mit 220 Litern zwischen 19.45 und 21.20 Uhr. Ein Wahnsinn.
Beispiellose Solidaritätsaktion
Doch machtlos? Hoffnungslos? Hilflos? Von wegen.
Bei Facebook bietet um kurz vor Mitternacht eine „Frau Rosenbaum“ Unwetter-Betroffenen spontan ihre Hilfe an. Einige Angebote plätschern ein, Suchanfragen aber um so mehr. Das wiederum bringt andere auf die Idee, etwas mehr System einzubringen: die Gruppe „Regen in Münster“ gegründet. Und die Hilfswelle rollt an. Binnen weniger Minuten schnellen die Mitgliederzahlen in die Höhe, tauschen sich Betroffene wie Helfer aus und verabreden spontane Unterstützung. Es ist der Auftakt einer beispiellosen Solidaritätsaktion, parallel zu den verzweifelt wie beherzt mitstreitenden hauptamtlichen Rettern in der Stadt.
Online werden dort Listen von Suchenden und Helfenden erstellt, so wie es eben geht beide Seiten zueinander gebracht, offline dann vor Ort gewirkt. Einfach so. Alles deutlich unkoordiniert, aber doch leidenschaftlich. Münster hilft. Auch jenen, die selbst nicht in Facebook vertreten sind, vielleicht zu alt für Soziale Medien oder ohne Strom sind. Und hilflos.
Ein Duo übernimmt die Mittlerfunktion, daheim mit eigenem Handy. Doch je mehr Mitglieder die Gruppe hat (3000 sind es nach dem ersten Tag), je mehr das Chaos in der Stadt offensichtlich wird, desto komplizierter wird es auch. Weitere Kräfte übernehmen, diesmal mit klarerer Organisation, und treffen sich zentral in einer kleinen Studentenwohnung. Fahrdienste, Gruppenhilfen, ja sogar initiierte Kooperationen mit städtischen Einrichtungen. Rund um die Uhr werden die ehrenamtlichen Einsätze koordiniert. Viele Tage lang.
Es sind besondere Momente, nicht nur für die Verzweifelten. Auch Sebastian Nauschütz, Teil der späterhin von der Stadt ausgezeichneten Gruppe, wird schnell klar, was da gerade passiert. Gleich bei seinem ersten Hilfseinsatz lernt er die Eheleute Oppelt kennen und schließt trotz dramatischer Lage sogleich Freundschaft mit den Senioren. „Sie haben sich so warm und herzlich über die Hilfe gefreut, dass die Kraft für drei Wochen, bis zum bitteren Schluss, angehalten hat“, wird der Münsteraner sagen. „Meine Motivation entstand durch den Tod meines Großvaters einen Monat zuvor – und den Gedanken daran, wie alte Herrschaften mit dem Chaos alleine klar kommen sollen.“ Später ist klar: Mit Hilfe der Gemeinschaft. Die tagelang nicht schläft, sondern über Münster wacht.
Leitstelle und Leidstelle
Hüben die Leitstelle – hier die sogenannte „Leidstelle“. Eine, die für Münster aber großes Glück bedeutet und eine „wunderbare Erfahrung ist, die wir zunächst gar nicht so auf dem Schirm hatten“, sagt Wolfgang Heuer: „Das war einfach nur klasse: Nicht lamentieren, sondern anpacken, nicht zugucken, sondern anderen Menschen helfen. Diese Möglichkeit der Hilfeleistung im Krisenfall durch nicht-professionelle Helfer ist inzwischen ein echtes Thema für die Gefahrenabwehr in Deutschland. Hier rechtzeitig Potentiale zu erkennen und zu aktivieren ist Teil zukünftiger Aufgabenstellungen.“ Sozialen Medien sei – ausnahmsweise – Dank.
Eitelkeiten und Animositäten, wie sie in großen Gruppen immer vorkommen können, werden im Sinne der Gemeinschaft lange abgewehrt. Doch bei nun 8000 Mitgliedern nimmt es langsam Überhand. In der Gruppe wird diskutiert, Gerüchte werden gestreut. Administratoren wechseln, Probleme werden nicht mehr zur Professionalisierung der Hilfen gelöscht, sondern öffentlich ausdiskutiert. Von allen. Selbst von jenen, die gar keine Hilfe beitragen, sondern einfach nur meckern wollen. Nachdem sich schon zwei Lager gebildet haben, bildet sich auch noch ein drittes: jenes, das die Diskussionen an verschiedensten Schauplätzen lächerlich findet und enttäuscht die Facebook-Gruppe verlässt. Stürmische, nervenbelastende, stressige Zeiten, in allen Belangen wie für alle schlaf- und lange Zeit hoffnungslosen Beteiligten.
Die Krisen des Krisenstabs
Noch bis zum 6. August tagt der städtische Krisenstab, koordiniert die Einsätze und schafft wieder Ordnung für ein halbwegs geregeltes Leben in Münster. Damit die Folgen des „Starkregenereignisses“ (wie es behördlich heißt, aber landauf landab als „Jahrhundert-Unwetter“ in Erinnerung bleibt) irgendwie gemildert werden. „Im Krisenstab wurden unter anderem Entscheidungen getroffen zur Information der Bevölkerung, Wiederherstellung der Stromversorgung, Entsorgung der Abfallberge an den Straßenrändern, Unterstützungsmaßnahmen des Sozialamtes für Hilfsbedürftige, die Zusammenarbeit mit freiwilligen Helfern und Initiativen, die Bereitstellung von personellen und finanziellen Ressourcen für die Schadensbeseitigung“, verrät Wolfgang Heuer, und: „Intensität und Dauer der Krisenstabsarbeit waren ungewöhnlich“.
Rein beruflich, aber natürlich auch ganz persönlich. Dass er gleich am ersten Tag den Urlaub abgebrochen hatte? Geschenkt. Wie unnötig dies doch angesichts der münsterschen Katastrophe war! Nein, es war ohne Frage „eine ganz besondere Situation. Unwetter gab es in den Jahren zuvor eine ganze Reihe in Münster. Aber zwei Todesopfer, der wirklich große materielle Schaden und die enormen Anstrengungen vieler beteiligter Helfer, die Not in Grenzen zu halten: Das hat bei mir tiefe Eindrücke hinterlassen. Dazu gehören auch die massiv beschädigten neuen Wohnhäuser an der Hunnebecke in Nienberge und die Gespräche mit den Bewohnern dort. Es gab auch Entscheidungssituationen, die nicht einfach waren – etwa die Festlegung, aus Gründen der Prioritäten eine private Initiative zur Vermittlung von Möbeln und Hausrat durch den Krisenstab nicht zu unterstützen.“
System und Mensch funktionieren
Fünf Millionen Euro an Soforthilfen werden im Laufe der ersten Tage gewährt, ganz unbehördlich. Zwar müssen einige (offenkundig ungerechtfertigte) Zahlungen anschließend zurückgebucht werden. Aber die Hilfe ist da. Der Beleg, dass nicht nur das System funktioniert, sondern auch der Mensch. Und das betrifft nahezu alle Bereiche des Stadtlebens, auch wenn kein Massenereignis alle Einzelschicksale einzuschließen vermag. „Selbst die Kollegen aus dem Frühdienst waren nachts noch völlig durchnässt im Einsatz“, lobte Heinz Hedrich in der 100-Tage-Bilanz seinerzeit stolz, „niemand hat da an Feierabend gedacht und wollte gehen.“
Als am 29. Juli die Sonne wieder über Münster aufstieg und die Schäden der so unbarmherzig langen Nacht offenbarte, kehrte nicht nur eine ganz besondere Form von Gelassenheit, sondern auch Vertrauen wieder zurück in die Stadt. Noch Wochen danach türmten sich riesige Sperrmüllhaufen in den Straßen, gab es nur dieses eine Gesprächsthema. Schadensbedingte Versicherungsstreitigkeiten, einsatzbedingte Krankmeldungen, die Not-Umzüge aus hunderten unbewohnbaren Wohnungen und Häusern. „Und noch viele Wochen das nachts zu hörende Laufen der Trocknungsgeräte in den Kellern“, sagt Heuer, der in der Rückschau fünf Jahre danach „aber auch das Bild einer funktionierenden Gefahrenabwehr in unserer Stadt“ sehe, die „tagtäglich rund um die Uhr für alle Menschen in Not zur Verfügung steht. Die das bewerkstelligen, verdienen unseren Dank.“
Ach ja, und auch die fußballspielenden Münchener Bayern – so ungern das der ein oder andere hier zugeben mag. Denn rund einen Monat nach dem Jahrhundert-Unwetter trat der Bundesliga-Rekordmeister im Preußen-Stadion mit Mann und Manuel und Müller zum DFB-Pokalspiel an – und spendete anschließend eine fünfstellige Summe nach Münster. Angesichts der enormen Helferzahlen innerhalb der Stadt und ganz NRWs ist das zwar nur ein marginaler Randaspekt, aber doch eine schöne Geste.
Schließlich geht es nicht darum, WAS jemand besitzt, sondern DASS er bereit ist zu teilen wie zu geben.
Und das hat ganz Münster trotz aller Verluste und großer wie kleiner persönlicher Katastrophen an diesem 28. Juli 2014 eindrucksvoll unter Beweis gestellt.
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